01.10.2025


Verführung durch Glauben – und Ideologie

Warum Wahrheitsmonopole Gewalt erzeugen

Ob sakral oder säkular: Wo eine Lehre die Wahrheit für sich beansprucht, werden aus Andersdenkenden Gegner. Geschichte und Gegenwart zeigen das Muster. Die offene Frage: Was heißt dann „Glaubensfreiheit“ – Schutzschirm für alle Ansprüche oder gezielte Sicherung für Minderheiten?

Menschen hassen Ungewissheit. Unser Kopf sucht Ursachen, oft Personen hinter Ereignissen. Aus diesem Reflex entstehen Erzählungen, aus Erzählungen Rituale, aus Ritualen Religionen. Das stiftet Sinn. Es bindet Gruppen. Es ordnet die Welt in „heilig“ und „profan“. Problematisch wird es, wenn diese Ordnung zum Wahrheitsmonopol verhärtet.

Wenn Gewissheit zur Waffe wird

Religiöse Konflikte sind fast nie „rein religiös“. Macht, Territorium, Ökonomie mischen mit. Aber die Dogmatik liefert die moralische Lizenz. Die Kreuzzugsformel „Gott will es“; die Bartholomäusnacht; der Dreißigjährige Krieg; millenaristische Aufstände wie die Taiping-Rebellion; die Pogrome der Indien-Partition – überall derselbe Griff: Heilsgewissheit legitimiert Gewalt.

Zwischenfazit: Religion kann trösten und Gemeinsinn organisieren. Gefährlich wird sie, wo sie Abweichung nicht erträgt.

Ideologien: dieselbe Mechanik ohne Gott

Totalitäre Ideologien kopieren das Muster, nur ohne Transzendenz. Der Nationalsozialismus als Heilslehre um „Volk“ und „Führer“. Der Leninismus mit der angeblich „wissenschaftlichen“ Avantgardepartei. Heute der Populismus, meist rechts, gelegentlich links, mit dem Satz: „Nur wir vertreten das wahre Volk.“ Der Kern ist identisch: Wahrheitsmonopol → Feindmarkierung → Herrschaft.

Das Funktionsschema

  1. Sinnversprechen in der Krise.

  2. Wahrheitsanspruch („Gott/Idee/Volk spricht durch uns“).

  3. Delegitimation der Abweichung (Ketzer, Lügner, „Volksfeinde“).

  4. Zwangsrechtfertigung als moralische Pflicht.

  5. Immunisierung gegen Kritik.

Wer dieses Schema einmal verstanden hat, erkennt es wieder – in Kanzelreden, Parteitagen, Telegram-Kanälen.

Die politische Antwort

  • Offene Gesellschaft verteidigen: Kritik ermöglichen, Fakten prüfen, Macht begrenzen.

  • Pluralität lehren: Herkunft von Glauben und Ideologie erklären, statt Heilsversprechen zu romantisieren.

  • Institutionelle Demut einüben: Keine Organisation – Kirche, Partei, Bewegung – ist über Widerspruch erhaben.

Glaubensfreiheit – absolut oder gezielt?

Hier wird es heikel. „Glaubensfreiheit“ gilt als unantastbar. Zu Recht – als Abwehrrecht gegen staatliche Bevormundung. Aber die Praxis hat einen blinden Fleck: Wenn jede noch so wahrheitsversessene Lehre gleichermaßen sakrosankt behandelt wird, trainieren wir Unantastbarkeit auch dort ein, wo die Lehre anderen die Freiheit abspricht.

Frage 1: Ist eine absolute Glaubensfreiheit sinnvoll, die jeglichen Wahrheitsabsolutismus unter denselben Schutz stellt – auch dann, wenn er offen anti-pluralistisch auftritt?

Frage 2: Oder verstehen wir Glaubensfreiheit präziser: als Instrument zum Schutz von Personen und kleinen Gemeinschaften, damit sie ungestört glauben, feiern, zweifeln können – solange ihre Praxis die gleichen Freiheits- und Gleichheitsrechte anderer nicht verletzt?

Diese Präzisierung wäre kein Angriff auf die Religion. Sie wäre eine Rückbesinnung auf den liberalen Kern: Der Staat schützt Menschen in ihrer Überzeugung – nicht Überzeugungen vor Kritik. Wer mit einem Wahrheitsmonopol in die Öffentlichkeit tritt und daraus Herrschaft oder Sonderrechte ableitet, muss sich Widerspruch, Satire, Gegenrede gefallen lassen. Und wenn aus Lehre Zwang wird – ob sakral oder säkular –, endet der Schutz. Dort beginnen die Grenzen einer freiheitlichen Ordnung.

Glaube entsteht aus Sinnsuche, Ideologie aus dem Wunsch nach Deutungshoheit. Gefährlich werden beide, wenn sie unfehlbar auftreten. Eine klügere Lesart der Glaubensfreiheit schützt die Schwachen, nicht die Unfehlbaren. Sie schützt die Freiheit zu glauben – und die Freiheit, nein zu sagen. Genau darin liegt der Unterschied zwischen Trost und Zwang, zwischen Gemeinschaft und Gewalt.

 

28.09.2025

 Generiertes Bild

 

 

 

 

 

 

Der Experte – Schutzpatron des Unwissens

Wenn Politiker nicht mehr weiterwissen, rufen sie den „Beraterkreis“. Dort sitzen dann Menschen mit grauen Schläfen und ernsten Gesichtern, die Papiere wälzen, Statistiken zitieren und am Ende eine Empfehlung abgeben, die genauso unverbindlich ist wie das Wetter im April. Das Schöne daran: Der Politiker hat sein Alibi. „Ich habe die Experten gefragt.“ Wenn’s schiefgeht, war’s nicht er.

Ein genialer Trick – und die Medien haben ihn übernommen.

Experten als Lückenfüller

Man könnte glauben, die journalistische Grundaufgabe sei es, Informationen zu recherchieren. Inzwischen reicht es aber offenbar, eine Studiotür aufzumachen und den Nächstbesten hereinzuwinken. Titel? Am besten Professor. Fachgebiet? Nebensache. Hauptsache, man kann ihn in den Bauchbinden als „Experte“ ankündigen.

So sitzt der Politologe am Montag im Studio, erklärt die Ukrainefront, am Dienstag die Inflation, am Mittwoch das Klima. Universalgelehrte, wie man sie seit Leonardo da Vinci nicht mehr gesehen hat.

Der Unterschied: Leonardo war ein Universalgenie.

Klassiker des Irrtums (Magere Auswahl)

  • 2008, Finanzkrise: „Alles halb so wild, Europa bleibt verschont.“ Zwei Wochen später war Lehman pleite und die halbe Bankenwelt gleich mit.

  • 2020, Corona: „Masken bringen nichts.“ – „Masken sind unverzichtbar.“ – „Masken nur draußen.“ – „Masken nur drinnen.“ Der Bürger lernte vor allem eines: Man kann gleichzeitig recht haben und unrecht.

  • 2022, Ukraine: „Russland nimmt Kiew in drei Tagen.“ Tatsächlich zogen sich die russischen Panzer nach Wochen zurück, teilweise zu Fuß.

Und trotzdem sitzen dieselben Gesichter heute wieder vor Kameras und erklären, warum sie damals natürlich recht hatten, nur „im falschen Kontext“.

Der Zuschauer als Versuchskaninchen

Der Zuschauer darf derweil staunen, wie elegant Meinungen als Nachrichten verkauft werden. „Die Meldung konnte nicht bestätigt werden“, heißt es, aber keine Sorge: Der Experte hat ja eine Meinung! Und eine Meinung ersetzt bekanntlich jede Recherche.

Früher war die Zeitung voller Fakten. Heute ist das Studio voller Experten.

Satirische Zwischenfrage

Was kommt als Nächstes? Der Wetterexperte, der uns nach einem Blick in den Himmel versichert: „Es könnte regnen, aber auch nicht.“ Oder der Kaffee-Experte, der im Morgenmagazin erklärt, dass Bohnen grundsätzlich braun sind, aber auch mal schwarz wirken können.

Seriös verpackt, versteht sich.

Die Alternative: Mut zum Nichtwissen

Man könnte es so einfach haben: Journalisten sagen, was sie wissen. Und was nicht. Drei Spalten würden genügen:

  1. Gesichert.

  2. Unklar.

  3. Noch offen.

Das wäre ehrlicher als jedes „Expertenpanel“ und würde den Bürger nicht wie ein unmündiges Kind behandeln.

Denn die wahre Nachricht ist manchmal nicht das, was man weiß – sondern das, was man bislang nicht weiß.

23.09.2025

 

 

 Nörgeln statt Nachdenken – das deutsche Spezialtalent

Es gibt Länder, in denen Menschen Probleme praktisch und solidarisch lösen. Spanien zum Beispiel. Dort regt man sich weniger über „die da oben“ auf, sondern hilft einander – mit Händen und Füßen, nicht mit endlosen Klagen. Politik ist dort Hintergrundmusik, nicht das Hauptthema am Tisch.

In Deutschland dagegen gehört das Nörgeln zur Grundausstattung. Kaum ein Gespräch, in dem nicht die angebliche Unfähigkeit der Regierung beklagt wird. Auf Nachfrage, wie man es selbst besser machen würde, herrscht meist beredtes Schweigen. Oder es folgt eine empörte Floskel, die alles erklärt und nichts löst.

Besonders anschaulich wird diese Haltung im Ukrainekrieg. Die Ursache – dass Russland unter Putin völkerrechtswidrig ein Nachbarland überfallen hat – verschwindet im Nebel. Stattdessen heißt es: „Die Ukraine wird gemästet, mit Waffen, Geld, Sozialhilfe. „Alles auf unsere Kosten.“ Und die Lösung klingt simpel: Wenn wir die Unterstützung einstellen, ist sofort Frieden.

Das ist in seiner Logik ebenso bestechend wie der Ratschlag, bei Regen einfach nicht nass zu werden. Der eigentliche Gedanke dahinter: Wenn wir nichts tun, müssen wir uns auch nicht aufregen. Dass ein Aggressor damit belohnt wird und womöglich weitergreift, wird ausgeblendet.

Es ist eine erstaunlich egozentrische Sichtweise. Das Leid der Ukrainer zählt weniger als der eigene Strompreis. Freiheit und Sicherheit wirken abstrakt, solange sie nicht unmittelbar gefährdet sind. Hauptsache, das Abendbier bleibt bezahlbar.

Ironisch betrachtet, ist diese Haltung sogar „praktisch“. Praktisch für all jene, die Veränderung scheuen. Praktisch für Putin, der in Deutschland mehr Verständnis findet, als ihm gebührt. Praktisch auch für diejenigen, die den Westen schwächen wollen.

Übersehen wird dabei: Solidarität ist kein moralischer Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Wer andere im Stich lässt, verliert am Ende selbst jede Unterstützung. Wer glaubt, Frieden sei durch Wegsehen zu erreichen, wird überrascht sein, wenn der Krieg an die eigene Tür klopft.

Vielleicht würde Deutschland gut daran tun, ein wenig spanische Gelassenheit zu übernehmen – nicht als Gleichgültigkeit, sondern als Pragmatismus. Weniger Jammern, mehr Handeln. Weniger Feindseligkeit, mehr Zusammenhalt. Denn Solidarität schützt nicht nur die anderen, sondern auch uns selbst.

19.09.2025

 

 

Nazikeule, Schablone, Dauerfeuer 

– oder wie man Kritik in Deutschland entsorgt

Deutschland, das Land der Regeln, hat sich eine besonders raffinierte Methode ausgedacht, Debatten abzukürzen: die Schablone. Wer inhaltlich nicht weiterweiß, greift zur Nazikeule, setzt den Stempel „Antisemitismus“ oder „rechts“ und schon ist der Kritiker erledigt. Eine wunderbar einfache Technik: ökonomisch, effizient, emotionsgeladen – und für jede Talkshow geeignet.

Das Problem: Die Schablone arbeitet mit Generalverdacht. Wer Kritik an Israels Vorgehen in Gaza übt, landet nicht selten in der Antisemitismus-Schublade. Wer gegen überbordende Bürokratie wettert, steht mit einem Bein bei den „Reichsbürgern“. Wer Gendersprache infrage stellt, muss angeblich schon AfD-Flyer im Keller lagern. So wird aus einer pluralistischen Demokratie ein Diskurs-Sandkasten, in dem jeder jedem mit Förmchen eins überzieht.

Dabei ist die Doppelmoral nicht zu übersehen: Antisemitismus wird juristisch verfolgt – zu Recht. Doch warum bleiben andere pauschale Verunglimpfungen nahezu folgenlos? Deutsche im Ausland werden als „Moffen“ und „Nazis“ beschimpft, Franzosen sind „Froschfresser“, Niederländer „Kaasköpfe“. Das ist nicht weniger plump, nicht weniger verletzend, nur eben nicht mit der gleichen politischen Gravität ausgestattet. Wer sich wehrt, bekommt zu hören: „Stell dich nicht so an.“

Hier liegt der Kern des Problems: Das Alleinstellungsmerkmal „Antisemitismus“ gerät zur Projektionsfläche. Statt antisemitische Ressentiments konsequent, aber nüchtern zu verfolgen, wird die moralische Keule geschwungen. Das erzeugt paradoxerweise nicht weniger, sondern mehr Antisemitismus. Denn es nährt das Gefühl, eine Gruppe werde als „mehr wert“ betrachtet, während andere Diffamierungen bagatellisiert werden. Ausgerechnet das, was bekämpft werden soll, wird verstärkt.

Wie also raus aus der Schablonen-Falle?

  1. Trennung von Kritik und Hetze. Kritik an staatlichem Handeln (auch an Israel) ist erlaubt, ja notwendig. Hetze gegen Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Religion ist etwas anderes. Wer beides verwischt, schadet am Ende allen.
  2. Gleiche Maßstäbe. Wenn Antisemitismus juristisch verfolgt wird, sollten auch systematische Beleidigungen anderer Nationalitäten oder Gruppen ernster genommen werden. Nicht jede Dummheit gehört vor Gericht, aber ein Mindestmaß an Gleichbehandlung wäre schon hilfreich.
  3. Sprache entschärfen. Die Nazikeule als Dauerwaffe stumpft ab. Wer alles „rechts“ nennt, erzeugt den Effekt von Shitstorms im Netz: Lärm, Empörung, Rufmord – und null Erkenntnisgewinn.
  4. Bildung statt Beschallung. Statt Dauerschleifen von Hitler-Dokus oder ritualisierter Gedenkreden wäre eine sachliche Aufklärung sinnvoll: Wie unterscheiden sich Meinungsäußerung, Kritik und echte Hetze? Nur wer das versteht, kann sich gegen Schablonendenken immunisieren.

Deutschland täte gut daran, den moralischen Vorschlaghammer in die Werkzeugkiste zurückzulegen. Kritik muss ausgehalten werden – auch wenn sie unbequem ist. Wer jede Abweichung mit der Schablone erledigt, zerstört das Fundament der offenen Gesellschaft.

Am Ende gilt: Ein Vorwurf, der inflationär benutzt wird, verliert seine Kraft. Wer wirklich gegen Antisemitismus kämpfen will, sollte ihn nicht zur Allzweckwaffe machen, sondern zum klar definierten, scharf begrenzten Tatbestand. Alles andere führt zu jenem paradoxen Zustand, in dem man Antisemitismus bekämpfen will – und ihn dabei selbst befeuert.


17.09.2025

 

Hitlers Hunde und die deutsche Dauerschleife

Es gibt Abende, da könnte man meinen, die Fernsehredaktionen hätten nur eine einzige Schublade: „Nazizeit“. Egal ob Phoenix, ZDFinfo oder Arte – irgendwer zeigt garantiert gerade wieder Hitler beim Hände-in-die-Hüften-Stemmen. Bald wird vermutlich noch eine Doku über seine Zahnpasta folgen. „Hitlers Hunde“ oder „Nazipferde“ sind inzwischen nicht mehr nur böse Witze, sondern satirisch greifbare Zukunftsformate.

Man will erinnern, aufklären, mahnen. Das Problem: Irgendwann ist Schluss mit Mahnung, wenn sie wie eine Tropfsteinhöhle auf die Zuschauer niederperlt. Wer nach 1945 geboren ist, kann mit Recht fragen: „Und was genau habe ich damit zu tun?“ Doch wehe, man stellt diese Frage laut – schon hängt der moralische Pranger bereit.

Das pädagogische Dauerfeuer

In Deutschland gilt: Ohne Nazidoku kein Bildungsauftrag. Der Blick zurück ist Staatsräson. Jeder Schüler hat mindestens dreimal „Schindlers Liste“ gesehen, jede Abiturklasse mindestens einmal Dachau oder Buchenwald besucht. Sinnvoll? Ja. Aber irgendwann verwandelt sich die kluge Mahnung in ein pädagogisches Dauerfeuer. Die Moralkeule wird so oft geschwungen, dass man sie nicht mehr spürt – oder man schlägt zurück.

Denn da ist das Missverständnis: Erinnerung ist nicht gleich Schuld. Doch genau so wird es häufig verkauft. Menschen, die erst in den Fünfzigern, Sechzigern oder Siebzigern geboren sind, sollen noch immer ein Bekenntnis ablegen, als hätten sie persönlich in Braunhemden marschiert. Das Ergebnis: Trotz. Resignation. Oder schlicht genervtes Wegzappen.

Wenn Dokus zum Futter werden

Besonders absurd: Was als Aufklärung gedacht ist, dient Neonazis und Rechtsradikalen als Material für ihre eigene Märchenwelt. In einschlägigen Foren kursieren Ausschnitte aus seriösen Dokus, unterlegt mit Marschmusik und Heldenpathos. „Seht her, was für eine starke Zeit!“ wird dann geschrien. Und während der Sender noch glaubt, er hätte erzieherisch gewirkt, jubelt die rechte Blase: Gratispropaganda direkt aus der Mediathek.

Mit anderen Worten: Wer die Nazi-Schleife zu oft wiederholt, liefert unfreiwillig das Soundtrack-Album für jene, die man eigentlich immunisieren wollte.

Moralischer Druck als Bumerang

Noch heikler wird es, wenn persönliche Verantwortung ins Spiel kommt. Wer heute öffentlich spricht – sei es in einer Talkshow oder einem Interview – wird gern gefragt, ob er sich „zu seiner Verantwortung gegenüber den Juden und Israel“ bekennt. Verantwortung, klar. Aber nicht selten wird daraus ein Zwangsbekenntnis. Wer sich windet oder Differenzierungen wagt, landet schneller in der rechten Ecke, als er „Auschwitz“ buchstabieren kann.

Doch so einfach ist Geschichte nicht. Schuld ist nicht vererbbar. Verantwortung aber schon – im Sinne von Wachsamkeit, von demokratischer Haltung, von Wehrhaftigkeit gegen Antisemitismus. Genau dieser Unterschied ginge auf jede Postkarte. Doch solange man lieber die Dauerpumpe betreibt, verpufft die Botschaft.

Erinnerung braucht Frischluft

Was also tun? Weniger Hitler. Mehr Gegenwart. Statt die tausendste Analyse von Goebbels’ Reden zu senden, könnte man lieber fragen: Wie funktionieren Fake News heute? Welche Parallelen gibt es zwischen damaliger Propaganda und heutiger populistischer Rhetorik? Warum marschieren auch heute Menschen lieber hinter Schreihälsen her, statt Fakten zu prüfen?

Kurz: Erinnerung muss mehr sein als Wiederholung. Sie muss Kontext schaffen. Wer nur den Hitler-Kanal einschaltet, bekommt irgendwann Rückkopplungen – und zwar genau die, die niemand haben will.

Nie wieder – aber bitte intelligent

Die deutsche Dauerberieselung mit Nazi-Themen hat ihre Grenzen erreicht. Statt der endlosen Wiederholung braucht es Formate, die neu denken, Fragen stellen, Widersprüche aushalten. Wer weiter glaubt, man könne mit Hitler-Dokus den Rechtsextremismus besiegen, irrt.

Denn vielleicht ist das eigentliche Problem nicht das Vergessen – sondern das Überfüttern. Und wer überfüttert, muss sich nicht wundern, wenn manche irgendwann nach anderem Futter gieren.

16.09.2025

 

Mein Leser – das unbekannte Wesen

 


oder Der Jubel, der ausbleibt

Einige Leser hat mein neuer Thriller *Pforte des Todes* tatsächlich gefunden – so viel ist belegt. Ganze zwei E-Mails, ein einzelner Anruf und sogar ein nach Veilchen duftender Brief haben ihren Weg zu mir gefunden. Alle Reaktionen fielen äußerst positiv aus, doch leider erschöpften sie sich im selben Muster: „Toller Roman, Gratulation!“ – und Ende.

Wie frustrierend! Mein Herz, das zitternd dem Urteil der Leser entgegenfiebert, schreit nach mehr als bloßen Lobfloskeln. Warum, zum Teufel, sagt ihr mir, das Buch sei großartig, wenn ihr mir nicht verratet, warum?

Nach all den Jahren ohne literarische Streicheleinheiten lechze ich nach echter Rückmeldung, nach einer ausführlichen Urteilsbegründung! Wie ist mein Stil? Habe ich überhaupt einen? Wie gelungen ist der Aufbau der Handlung? Wie lebendig sind die Figuren gezeichnet? Und vor allem: Wie sehr strapaziert die Spannung eure Nerven? Kurz: Was genau macht meinen neuen Roman so fesselnd – ist er es überhaupt?

Durst nach begründetem Feedback

Ich habe Jahre auf diesen Moment hingearbeitet – die Wiedergeburt in der literarischen Öffentlichkeit. Jetzt, wo *Pforte des Todes* endlich erschienen ist, giert meine ausgehungerte Autorenseele nach detaillierten Reaktionen. Eine bloße Gratulation ohne Begründung ist wie ein Tropfen auf dem heißen Stein meines Egos.
Ich wünsche mir sehnlichst, dass die Leser nicht nur „gefällt mir“ ankreuzen, sondern mir erzählen, warum es ihnen gefällt (oder gar nicht gefällt!). Waren es meine originellen Wendungen? Der sprachliche Witz? Die glaubwürdigen Dialoge? Oder hat vielleicht die jahrelange Wartezeit eure Erwartungen in ungeahnte Höhen geschraubt? Ich stehe hier wie ein Angeklagter vor dem Richter – aber ohne die Urteilsbegründung, die mein schreibendes Herz so dringend braucht.

Warum nur? – Ironische Erklärungsversuche

Mangels echtem Feedback bleibt mir nur, in absurde Spekulationen zu flüchten. Vielleicht ist Pforte des Todes ja aus ganz anderen Gründen „toll“, als von mir naiv angenommen. Mögliche Ursachen für die Begeisterung – oder das Ausbleiben des Mega-Erfolgs – könnten sein:

- Versteckte Perle: Mein Roman muss erst gesucht werden, statt als riesige Bestseller-Pyramide im Buchladen-Eingang zu thronen. Nichts für Laufkundschaft, eher ein Geheimtipp für Schatzsucher.
- Keine Bestseller-Plakette: Pforte des Todes steht (noch) nicht seit drei Jahren unangefochten auf Platz 1 der Bestsellerliste. Vielleicht traut man dem Braten nicht, wenn der Spiegel sich bedeckt hält.
- Schlafmittel in Buchform: Möge mich der Blitz treffen für solche Lästerung – vielleicht taugt mein Roman am Ende nur als Rohstoff für hochwirksame, nach Buchbinderleim schmeckende Schlaftabletten?

Zwischen Hymne und Bannfluch

Dabei war das Echo keineswegs nur spärlich. Deutschlandfunk und FAZ et co. etwa haben sich meines Romans in Rezensionen angenommen – und zu meiner kaum verhohlenen Genugtuung nicht etwa vorsichtig, sondern mit kräftigen Worten gelobt. Von „spannend“, „vielschichtig“ und gar „literarisch bemerkenswert“ war die Rede. Worte, die mir das Herz wärmten und die Federn meines Ego-Pfaus kräftig zum Schwingen brachten.

Doch kaum hatte ich mich in dieser warmen Badewanne aus Anerkennung wohlig zurückgelehnt, tauchte am Horizont das andere Deutschland auf – jenes der moralischen Instanzen, die ihr Heil darin suchen, mit dem Bannstrahl zu drohen. Man flüsterte, dass gar die Exkommunikation im Raum stand. Ja, die Kirche sei beunruhigt über die Abgründe, die sich in Pforte des Todes lästernd aufgetan hätten, und habe ernsthaft über Sanktionen nachgedacht.

Zum Glück – oder leider, je nach dramaturgischem Standpunkt – scheiterte die angedrohte Exkommunikation an einem simplen Faktum: Ich gehöre keiner Kirche an. Ein kläglicher Fehlschlag für die Wächter der Moral, ein Triumph für die Bürokratie. So blieb mir der eigentliche literarische Ritterschlag, denn was kann eine größere Ehrung sein, als vom Kanzelpersonal höchstselbst aus der Gemeinschaft verbannt zu werden? Stattdessen blieb nur ein Schulterzucken: „Kann man nicht exkommunizieren, den Kerl – er hat ja keinen Mitgliedsbeitrag gezahlt.“

Ironischer kann ein Autorenschicksal kaum verlaufen: Auf der einen Seite das Lob der Kulturkritik, auf der anderen das ergebnislose Donnerwetter aus dem Beichtstuhl. Ich, der vom Kulturauge geadelte und von der Kirche bedrohte, stehe nun da und frage mich, was schwerer wiegt – die Hymne oder der Bannfluch, das Lob oder der halbherzige Tadel.

Ein Appell an den unbekannten Leser

Verzeiht meinem labilen Autorengemüt, aber ich stehe vor dem Nervenzusammenbruch. Ja, ich bin gestresst, ja, ich bin beinahe schon krank vor Sorge – dem Wahnsinn nahe! (Oder wie heißt das Vergnügen, nicht mehr Herr seiner selbst zu sein?)

Darum richte ich diesen Appell an dich, lieber Leser, du unbekanntes Wesen: Erbarme dich! Gib mir ein Zeichen, sei es auch nur anonym. Schreib mir ein paar Zeilen, nenne mir Himmel und Hölle deines Leseerlebnisses. Ich ertrage alles – überschwängliches Lob, sachliche Kritik, meinetwegen sogar böse Verrisse –, solange ich nur erfahre, was mein Buch in dir ausgelöst hat.

Denn nichts ist schlimmer als das große Schweigen im Walde. Selbst ein wütender Protest wäre mir willkommen, solange er ehrlich gemeint ist und aus der Lektüre (und einem ordnungsgemäß erworbenen Exemplar) kommt. 

P.S.: Selbst die empörten Stimmen geistlicher Würdenträger, die sich durch mythische oder kirchenkritische Motive in meinem Thriller auf den Schlips getreten fühlen, nehme ich gerne entgegen – vorausgesetzt, sie haben das Buch ordnungsgemäß gekauft und nicht kopieren lassen.

13.09.2025

 

Journalisten und ihre Wahrheit 

 oder: Wenn die Feder schneller fabuliert als das Leben

Man kennt das Spiel. Ein Journalist ruft an: „Wir wollen Ihre Geschichte erzählen.“ Klingt schmeichelhaft, als dürfe man endlich selbst zu Wort kommen. Doch spätestens beim fertigen Beitrag merkt man: Es war nie die eigene Geschichte, sondern die des Reporters. Er schreibt nicht, was war, sondern was sich verkauft. Und das sind selten die leisen Zwischentöne, sondern die lauten Knalleffekte.

Die Logik ist simpel: Sensation schlägt Substanz. „Wenn es kracht, dann kracht’s auch in der Auflage.“ Das Publikum verlangt Blut, Tränen und Verrat – und der Journalist liefert. Was nicht in die Dramaturgie passt, wird glattgebügelt. Komplexität stört. Zweifel irritieren. Also wird die Biografie des Porträtierten wie ein Krimi geplottet: Helden, Schurken, Abgründe. Das Ergebnis: ein Märchen im Gewand der Reportage.

Das Problem daran: Wer wirklich gelebt hat, erkennt sich in solchen Texten nicht wieder. Man liest von sich selbst wie von einem Fremden. „War ich das?“ „Habe ich das gesagt?“ Man möchte anrufen und korrigieren, doch das Telefon des Journalisten bleibt stumm. Er ist längst bei der nächsten Story – dem nächsten Opfer.

Natürlich, man könnte sagen: Journalisten sind keine Archivare, sondern Erzähler. Sie erwarten Bilder, keine Bilanzen. Aber wo endet die Erzählung – und wo beginnt die Lüge? Wenn aus einem Gespräch mit einem Glas Wasser in der Hand eine Szene mit „zitternden Fingern am Whisky“ wird, ist das keine Interpretation mehr, sondern Fiktion.

Manche Journalisten rechtfertigen sich mit dem Publikum: „Die Leser wollen es so.“ Ach ja? Die Leser wollen offenbar auch, dass Politiker Helden oder Schurken sind, niemals ambivalente Menschen. Dass Flüchtlinge Heuschrecken sind oder Heilige, aber nie Nachbarn. Das Publikum, heißt es, verträgt keine Grautöne. Nur Schwarz oder Weiß. Dabei wären genau die Grautöne die Wahrheit.

Ironie der Geschichte: Wer viel erlebt hat, wird umso stärker verfälscht. Denn eine bewegte Vergangenheit schreit nach Dramatik. Je mehr Stoff vorhanden ist, desto hemmungsloser wird gebogen. Ein Mann, der etwas gesehen, getan, erlitten hat – er ist für die Medien kein Zeitzeuge, sondern eine Requisite. Seine Rolle: den Plot verstärken.

Und man selbst? Man bleibt der Statist im eigenen Film. Die eigentliche Geschichte – die widersprüchliche, manchmal banale, manchmal tragische Wahrheit – passt nicht ins Drehbuch. Sie ist zu kompliziert, zu wenig quotenträchtig.

Das Bittere daran: Viele Journalisten begreifen nicht, dass sie so Vertrauen verspielen. Der Porträtierte fühlt sich benutzt, das Publikum irgendwann betrogen. Am Ende steht nicht Erkenntnis, sondern Misstrauen: gegen Medien, gegen Berichterstattung, gegen jede Form von Darstellung.

Vielleicht wäre Ehrlichkeit weniger spektakulär – aber nachhaltiger. Ein Leben, das in allen Facetten erzählt wird, ist spannender als jedes konstruierte Drama. Doch dazu bräuchte es Mut zum Leisen, Geduld fürs Widersprüchliche und Respekt vor dem, der sein Leben zur Verfügung stellt.

Solange das nicht passiert, bleibt das Verhältnis zwischen Journalist und Porträtiertem eine Art ungleiche Ehe: Der eine liefert die Wahrheit, der andere macht daraus einen Krimi. Und beide wissen: So richtig stimmt es nicht

Nur der Journalist verkauft es trotzdem.


02.09.2025



 



„Fleißige“ gegen „Faule“

Ein polemischer Mythos und die Fakten

 Politiker im gesamten deutschsprachigen Raum – ob in Deutschland, Österreich oder der Schweiz – bemühen gern ein einfaches Narrativ: Die fleißigen Menschen, die jeden Morgen aufstehen und arbeiten, müssten vor den faulen Sozialleistungsbeziehern geschützt werden. Diese Polemik, wonach der Sozialstaat angeblich von „Arbeitsverweigerern“ ruiniert werde, klingt eingängig. Doch sie hält einer Überprüfung mit Fakten nicht stand. Im Gegenteil: Der wahre Ballast für das Sozialsystem liegt nicht bei ein paar angeblich Drückebergern, sondern in strukturellen Problemen wie Überbürokratie, hohen Verwaltungskosten und der fehlenden Absicherung ganzer Bevölkerungsgruppen. Und die größte Unwahrheit steckt in der Unterstellung, nur klassisch Beschäftigte würden in diesem Land „arbeiten“. Ein genauerer Blick zeigt, wie haltlos und ungerecht dieses Narrativ wirklich ist.

Der Mythos vom Sozialsystem am Abgrund durch „Verweigerer“

Es wird suggeriert, eine nennenswerte Anzahl von Bürgergeld- oder Sozialhilfebeziehern weigere sich beharrlich, zu arbeiten oder auch nur Termine beim Jobcenter wahrzunehmen – und deshalb drohe dem Sozialstaat der Kollaps. Doch die offiziellen Zahlen zeichnen ein völlig anderes Bild. Nur eine verschwindende Minderheit der Leistungsbezieher fällt überhaupt durch Arbeitsverweigerung oder Terminversäumnisse auf.

Von rund 3,9 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeld-Beziehenden in Deutschland wurden im gesamten Jahr 2023 gerade einmal 0,4 Prozent mit Kürzung des Regelsatzes sanktioniert, weil sie ein zumutbares Job- oder Bildungsangebot ablehnten. Das entspricht etwa 15.800 Fällen – verschwindend wenig gemessen an der Gesamtzahl. Selbst wenn man alle Meldeversäumnisse (verpasste Termine) mitzählt, gab es 2023 insgesamt 222.476 Sanktionen – oft geringe Kürzungen von 10 Prozent, etwa für einen verpassten Termin. Viele Betroffene tauchen in dieser Statistik mehrfach auf. Es handelt sich also nicht um Hunderttausende „Totalverweigerer“, sondern größtenteils um einmalige Versäumnisse.

Die Bundesagentur für Arbeit betont selbst: „Die allermeisten Menschen wollen arbeiten.“ Es gebe nur einige wenige Bürgergeld-Beziehende, die zumutbare Arbeit beharrlich verweigern. Auch Sozialexperten kritisieren die politische Panikmache als „Showpolitik“: Die Zahlen zeigen, es gibt so gut wie gar keine Totalverweigerer.

Mit anderen Worten: Die pauschale Anschuldigung, der Sozialstaat werde von Massen an Faulen ausgenutzt, ist durch Fakten nicht belegbar. Im Gegenteil, die überwältigende Mehrheit der Leistungsbezieher will ihre Situation verbessern. Viele schaffen es jedoch nicht sofort aus eigener Kraft – sei es wegen mangelnder Jobangebote, Krankheit, fehlender Betreuung für Kinder oder anderer Hindernisse. Die Fiktion vom Heer der Faulen lenkt davon ab, dass es sich in aller Regel um Menschen in Notlagen handelt, die unterstützt und gefördert werden wollen. Der Sozialstaat kollabiert nicht an ein paar Tausend „Verweigerern“ – ihr Anteil ist schlicht zu gering, um das System ernsthaft zu belasten.

Im Übrigen haben bereits die jüngsten Verschärfungen – etwa die Möglichkeit, „Totalverweigerern“ zeitweise alle Leistungen zu streichen – wenig bis keinen praktischen Effekt gezeigt. Der medial angekündigte „Knallhart“-Kurs entpuppte sich als Rohrkrepierer, weil derartige Extremfälle in der Praxis kaum auftreten. Die populäre Parole „Wer nicht will, der hat schon“ mag sich in Talkshows gut anhören – sie basiert aber auf Einzelfällen und verzerrt völlig das Gesamtbild.

Bürokratie und Manager-Gehälter: Was den Sozialstaat wirklich belastet

Während also die Kosten durch sogenannte Verweigerer minimal sind, gibt es sehr wohl enorme Belastungen des Sozialsystems – nur liegen diese woanders. Experten machen vor allem die ausufernde Bürokratie und hohe Verwaltungskosten verantwortlich. Eine aktuelle Analyse nennt die Verwaltung des Bürgergeld-Systems „teuer, intransparent und wenig effizient“.

Die deutschen Jobcenter verfügten 2022 über ein Budget von 10,7 Milliarden Euro. Davon flossen jedoch nur 3,8 Milliarden in Leistungen zur Arbeitsförderung für Erwerbslose, während die Verwaltungskosten auf 6,5 Milliarden anstiegen. In den letzten zehn Jahren sind die Verwaltungsausgaben – auch bedingt durch steigende Gehälter im System – um 39 Prozent gewachsen. Gleichzeitig stagnierten die Mittel für Weiterbildung, Eingliederung und Förderung der Leistungsbezieher nahezu. Mit anderen Worten: Ein immer größerer Teil des Geldes versickert im Verwaltungsapparat, statt den Betroffenen direkt zu helfen.

Hinzu kommt, dass im Sozialsystem erhebliche Gehälter-Unterschiede bestehen. Während Sachbearbeiter und „kleine“ Angestellte in Jobcentern vergleichsweise moderate Einkommen beziehen, verdienen die Spitzenmanager der Sozialbehörden teils exorbitante Summen. So erhielt der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit pro Person rund 300.000 Euro jährlich – auf Höhe eines Bundesministers. Zum Vergleich: Ein regulärer Fallmanager im Jobcenter verdient je nach Erfahrung vielleicht 40.000 bis 50.000 Euro im Jahr. Hier von „Gerechtigkeit gegenüber den Fleißigen“ zu sprechen, erscheint zynisch: Oben werden Spitzengehälter gezahlt, während unten dieselbe Politik jeder Kassiererin und jedem Paketboten predigt, sie müssten den Gürtel enger schnallen, weil sonst „der Sozialstaat nicht finanzierbar“ sei.

Wer arbeitet wirklich? Die übersehenen Leistungsträger

Der vielleicht perfideste Aspekt des „fleißig vs. faul“-Denkens ist die Unterstellung, nur sozialversicherungspflichtig Beschäftigte würden in diesem Land etwas leisten. Implizit werden damit Millionen Menschen abgewertet, die nicht in einem klassischen Angestelltenverhältnis arbeiten – als wären sie alle im „Dauerurlaub“.

Freiberufler und Soloselbständige: Weit über zwei Millionen Menschen in Deutschland arbeiten als Selbständige oder Freiberufler – seien es IT-Fachleute, Journalisten, Handwerker, Künstler oder Schriftsteller. Diese Menschen haben keinen festen Lohn, keine automatische Arbeitslosenversicherung und oft unsichere Auftragslagen. Nur die allerwenigsten Autoren erzielen Bestseller-Einnahmen; die meisten kommen finanziell kaum über die Runden. Das durchschnittliche Jahreseinkommen selbständiger Künstler liegt bei unter 20.000 Euro – kaum genug zum Leben.

Kulturschaffende und Kreative: Schauspieler, Bühnenkünstler, Musiker – sie bereichern die Gesellschaft kulturell und erwirtschaften auch ökonomisch einen erheblichen Anteil. Die Kultur- und Kreativwirtschaft setzte in Deutschland über 200 Milliarden Euro um, rund 2,2 Prozent des gesamten Wirtschaftsumsatzes. Doch die einzelnen Künstler sehen davon wenig. Theaterschauspieler etwa werden oft miserabel bezahlt. Bis vor Kurzem galt eine Mindestgage von gerade 1.765 Euro brutto im Monat, nun leicht angehoben. Viele können von solchen Gagen kaum leben. Nebenjobs sind selbst unter fest engagierten Bühnenkünstlern keine Seltenheit.

Eltern und Hausarbeit Leistende: Was ist mit den Hausfrauen und Hausmännern, die ihre Kinder erziehen oder Angehörige pflegen? Leistet eine Vollzeit-Mutter mit drei kleinen Kindern etwa keine Arbeit im Sinne der Politiker? Ökonomen haben errechnet, dass in Deutschland jährlich rund ein Drittel mehr unbezahlte Arbeit (Haushalt, Kindererziehung, Pflege) geleistet wird als bezahlte Erwerbsarbeit. Der monetäre Wert dieser unbezahlten Sorgearbeit entspräche vorsichtig geschätzt etwa einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Ohne diese immense Leistung würde die Volkswirtschaft kollabieren.

„Klamheimlich Ausgebeutete“: Dieser Ausdruck benennt jene, die zwar einen Job haben, aber von ihrer Hände Arbeit nicht leben können. Sie gelten offiziell als fleißig Beschäftigte, stehen aber oft am Rande der Armut – und wären die ersten, die bei Kürzung von Sozialleistungen ins Bodenlose fallen. Ein prägnantes Beispiel sind die Aufstocker: Menschen, die trotz Erwerbsarbeit auf Sozialleistungen angewiesen sind, weil der Lohn zum Leben nicht reicht. Rund 826.000 Erwerbstätige erhielten zusätzlich Bürgergeld, um über die Runden zu kommen. Das kostete den Staat etwa sieben Milliarden Euro im Jahr.

Fazit: Schluss mit dem Sündenbock-Gerede

Der geflügelte Satz „Die Fleißigen müssen vor den Faulen geschützt werden“ klingt nach Gerechtigkeit, ist aber in Wahrheit ein populistischer Kampfbegriff. Er teilt die Gesellschaft in Würdige und Unwürdige und zielt darauf ab, Sozialkürzungen politisch salonfähig zu machen. Doch wie aufgezeigt, hält diese Erzählung keinem Faktencheck stand.

Nur eine verschwindende Minderheit an Leistungsbeziehern verweigert sich Angeboten ernsthaft. Diese wenigen Fälle retten oder ruinieren weder den Sozialstaat. Strukturelle Probleme wie Bürokratie, ineffiziente Verwaltung und hochbezahlte Apparatschiks verschlingen dagegen Milliarden – hier wäre Reformbedarf, nicht bei den Bedürftigen am unteren Ende.

Millionen Menschen arbeiten außerhalb traditioneller Angestelltenverhältnisse – Freelancer, Kulturschaffende, Eltern, Geringverdiener – und bekommen von dem angeblichen „Schutz der Fleißigen“ rein gar nichts ab. Im Gegenteil, sie sind oft die ersten Opfer, wenn Sparpakete geschnürt und „Leistungen gekürzt“ werden. Ihre Arbeit wird übersehen oder still ausgenutzt, während man ihnen zugleich unterstellt, sie würden nichts beitragen.

Der wahre Skandal ist nicht, dass einige Wenige die sozialen Sicherungssysteme ausnutzen. Der wahre Skandal ist, wie mit solchen Feindbildern Politik gemacht wird, um von den eigentlichen Baustellen abzulenken. Es sind billige Sündenböcke, die medial präsentiert werden, während die stillen Stützen der Gesellschaft – ob in unbezahlter Sorgearbeit, in prekären Jobs oder im künstlerischen Bereich – kaum Wertschätzung erfahren.

Wer ernsthaft den Sozialstaat retten will, sollte nicht zuerst nach unten treten, sondern nach oben und nach innen schauen: Wo versickern Gelder in ineffizienten Strukturen? Wo werden Menschen trotz harter Arbeit arm gehalten? Wie können alle, die zur Gesellschaft beitragen – auf welche Weise auch immer – ein Leben in Würde führen, ohne Angst vor Armut?

Die Gleichung „arbeitend = fleißig = gut“ versus „leistungsbeziehend = faul = schlecht“ ist ein Zerrbild. Fleißig sind nicht nur die Angestellten mit Stempelkarte, und faul sind nicht die, die das Pech haben, auf Unterstützung angewiesen zu sein. Ein moderner Sozialstaat darf sich von solchen einfachen Feindbildern nicht leiten lassen, sondern muss die wirklichen Probleme lösen – zum Schutz aller Bürger, die täglich ihren Beitrag leisten, sei er bezahlt oder unbezahlt.

Kurzum: Es ist höchste Zeit, mit dem falschen Vorwurf aufzuräumen, „Verweigerer“ würden den Sozialstaat ruinieren. Zahlen und Fakten zeigen unmissverständlich, dass dieses Narrativ haltlos ist. Die wahren Leistungsträger in Haus und Familie, auf den Theaterbühnen, an den Kassen und in den Pflegeheimen verdienen Respekt und Unterstützung – und zwar statt der immer gleichen polemischen Verurteilungen. Denn ein Sozialstaat, der seinen Namen verdient, steht nicht im Zeichen von Misstrauen und Spaltung, sondern von Solidarität mit all jenen, die ihn tagtäglich tragen.


Quellen

  1. Bundesagentur für Arbeit: Bürgergeld – Häufige Fragen zu Sanktionen und Verweigerung (2024)
  2. Tagesschau.de, 20.12.2023: „Kaum Totalverweigerer beim Bürgergeld – neue Sanktionen haben wenig Effekt“
  3. Bertelsmann-Stiftung (2022): Analyse zur Effizienz der Jobcenter
  4. Bundesagentur für Arbeit, Haushaltszahlen 2022/23 (Verwaltungskosten, Förderungsausgaben)
  5. Handelsblatt, 06.07.2022: „Top-Gehälter bei der Bundesagentur für Arbeit – Vorstände verdienen mehr als Bundesminister“
  6. Deutscher Kulturrat, Studie 2018: „Sozioökonomische Lage von Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland“
  7. Statistisches Bundesamt (Destatis), 2023: Daten zur unentgeltlichen Sorgearbeit
  8. Deutscher Bühnenverein, Tarifinformationen 2022/23 zu Mindestgage im Theater
  9. Kultur- und Kreativwirtschaftsbericht der Bundesregierung 2023