„Fleißige“ gegen „Faule“
Ein polemischer Mythos und die Fakten
Politiker im gesamten
deutschsprachigen Raum – ob in Deutschland, Österreich oder der Schweiz –
bemühen gern ein einfaches Narrativ: Die fleißigen Menschen, die jeden Morgen
aufstehen und arbeiten, müssten vor den faulen Sozialleistungsbeziehern
geschützt werden. Diese Polemik, wonach der Sozialstaat angeblich von
„Arbeitsverweigerern“ ruiniert werde, klingt eingängig. Doch sie hält einer
Überprüfung mit Fakten nicht stand. Im Gegenteil: Der wahre Ballast für das
Sozialsystem liegt nicht bei ein paar angeblich Drückebergern, sondern in
strukturellen Problemen wie Überbürokratie, hohen Verwaltungskosten und der
fehlenden Absicherung ganzer Bevölkerungsgruppen. Und die größte Unwahrheit
steckt in der Unterstellung, nur klassisch Beschäftigte würden in diesem Land
„arbeiten“. Ein genauerer Blick zeigt, wie haltlos und ungerecht dieses
Narrativ wirklich ist.
Der Mythos vom Sozialsystem am Abgrund durch
„Verweigerer“
Es wird suggeriert, eine nennenswerte Anzahl von Bürgergeld-
oder Sozialhilfebeziehern weigere sich beharrlich, zu arbeiten oder auch nur
Termine beim Jobcenter wahrzunehmen – und deshalb drohe dem Sozialstaat der
Kollaps. Doch die offiziellen Zahlen zeichnen ein völlig anderes Bild. Nur eine
verschwindende Minderheit der Leistungsbezieher fällt überhaupt durch
Arbeitsverweigerung oder Terminversäumnisse auf.
Von rund 3,9 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeld-Beziehenden
in Deutschland wurden im gesamten Jahr 2023 gerade einmal 0,4 Prozent mit
Kürzung des Regelsatzes sanktioniert, weil sie ein zumutbares Job- oder
Bildungsangebot ablehnten. Das entspricht etwa 15.800 Fällen – verschwindend
wenig gemessen an der Gesamtzahl. Selbst wenn man alle Meldeversäumnisse
(verpasste Termine) mitzählt, gab es 2023 insgesamt 222.476 Sanktionen – oft
geringe Kürzungen von 10 Prozent, etwa für einen verpassten Termin. Viele Betroffene
tauchen in dieser Statistik mehrfach auf. Es handelt sich also nicht um
Hunderttausende „Totalverweigerer“, sondern größtenteils um einmalige
Versäumnisse.
Die Bundesagentur für Arbeit betont selbst: „Die
allermeisten Menschen wollen arbeiten.“ Es gebe nur einige wenige
Bürgergeld-Beziehende, die zumutbare Arbeit beharrlich verweigern. Auch
Sozialexperten kritisieren die politische Panikmache als „Showpolitik“: Die
Zahlen zeigen, es gibt so gut wie gar keine Totalverweigerer.
Mit anderen Worten: Die pauschale Anschuldigung, der
Sozialstaat werde von Massen an Faulen ausgenutzt, ist durch Fakten nicht
belegbar. Im Gegenteil, die überwältigende Mehrheit der Leistungsbezieher will
ihre Situation verbessern. Viele schaffen es jedoch nicht sofort aus eigener
Kraft – sei es wegen mangelnder Jobangebote, Krankheit, fehlender Betreuung für
Kinder oder anderer Hindernisse. Die Fiktion vom Heer der Faulen lenkt davon
ab, dass es sich in aller Regel um Menschen in Notlagen handelt, die unterstützt
und gefördert werden wollen. Der Sozialstaat kollabiert nicht an ein paar
Tausend „Verweigerern“ – ihr Anteil ist schlicht zu gering, um das System
ernsthaft zu belasten.
Im Übrigen haben bereits die jüngsten Verschärfungen – etwa
die Möglichkeit, „Totalverweigerern“ zeitweise alle Leistungen zu streichen –
wenig bis keinen praktischen Effekt gezeigt. Der medial angekündigte
„Knallhart“-Kurs entpuppte sich als Rohrkrepierer, weil derartige Extremfälle
in der Praxis kaum auftreten. Die populäre Parole „Wer nicht will, der hat
schon“ mag sich in Talkshows gut anhören – sie basiert aber auf Einzelfällen
und verzerrt völlig das Gesamtbild.
Bürokratie und Manager-Gehälter: Was den Sozialstaat
wirklich belastet
Während also die Kosten durch sogenannte Verweigerer minimal
sind, gibt es sehr wohl enorme Belastungen des Sozialsystems – nur liegen diese
woanders. Experten machen vor allem die ausufernde Bürokratie und hohe
Verwaltungskosten verantwortlich. Eine aktuelle Analyse nennt die Verwaltung
des Bürgergeld-Systems „teuer, intransparent und wenig effizient“.
Die deutschen Jobcenter verfügten 2022 über ein Budget von
10,7 Milliarden Euro. Davon flossen jedoch nur 3,8 Milliarden in Leistungen zur
Arbeitsförderung für Erwerbslose, während die Verwaltungskosten auf 6,5
Milliarden anstiegen. In den letzten zehn Jahren sind die Verwaltungsausgaben –
auch bedingt durch steigende Gehälter im System – um 39 Prozent gewachsen.
Gleichzeitig stagnierten die Mittel für Weiterbildung, Eingliederung und
Förderung der Leistungsbezieher nahezu. Mit anderen Worten: Ein immer größerer
Teil des Geldes versickert im Verwaltungsapparat, statt den Betroffenen direkt
zu helfen.
Hinzu kommt, dass im Sozialsystem erhebliche
Gehälter-Unterschiede bestehen. Während Sachbearbeiter und „kleine“ Angestellte
in Jobcentern vergleichsweise moderate Einkommen beziehen, verdienen die
Spitzenmanager der Sozialbehörden teils exorbitante Summen. So erhielt der
Vorstand der Bundesagentur für Arbeit pro Person rund 300.000 Euro jährlich –
auf Höhe eines Bundesministers. Zum Vergleich: Ein regulärer Fallmanager im
Jobcenter verdient je nach Erfahrung vielleicht 40.000 bis 50.000 Euro im Jahr.
Hier von „Gerechtigkeit gegenüber den Fleißigen“ zu sprechen, erscheint
zynisch: Oben werden Spitzengehälter gezahlt, während unten dieselbe Politik
jeder Kassiererin und jedem Paketboten predigt, sie müssten den Gürtel enger
schnallen, weil sonst „der Sozialstaat nicht finanzierbar“ sei.
Wer arbeitet wirklich? Die übersehenen Leistungsträger
Der vielleicht perfideste Aspekt des „fleißig vs.
faul“-Denkens ist die Unterstellung, nur sozialversicherungspflichtig
Beschäftigte würden in diesem Land etwas leisten. Implizit werden damit
Millionen Menschen abgewertet, die nicht in einem klassischen Angestelltenverhältnis
arbeiten – als wären sie alle im „Dauerurlaub“.
Freiberufler und Soloselbständige: Weit über zwei Millionen
Menschen in Deutschland arbeiten als Selbständige oder Freiberufler – seien es
IT-Fachleute, Journalisten, Handwerker, Künstler oder Schriftsteller. Diese
Menschen haben keinen festen Lohn, keine automatische Arbeitslosenversicherung
und oft unsichere Auftragslagen. Nur die allerwenigsten Autoren erzielen
Bestseller-Einnahmen; die meisten kommen finanziell kaum über die Runden. Das
durchschnittliche Jahreseinkommen selbständiger Künstler liegt bei unter 20.000
Euro – kaum genug zum Leben.
Kulturschaffende und Kreative: Schauspieler, Bühnenkünstler,
Musiker – sie bereichern die Gesellschaft kulturell und erwirtschaften auch
ökonomisch einen erheblichen Anteil. Die Kultur- und Kreativwirtschaft setzte
in Deutschland über 200 Milliarden Euro um, rund 2,2 Prozent des gesamten
Wirtschaftsumsatzes. Doch die einzelnen Künstler sehen davon wenig.
Theaterschauspieler etwa werden oft miserabel bezahlt. Bis vor Kurzem galt eine
Mindestgage von gerade 1.765 Euro brutto im Monat, nun leicht angehoben. Viele
können von solchen Gagen kaum leben. Nebenjobs sind selbst unter fest
engagierten Bühnenkünstlern keine Seltenheit.
Eltern und Hausarbeit Leistende: Was ist mit den Hausfrauen
und Hausmännern, die ihre Kinder erziehen oder Angehörige pflegen? Leistet eine
Vollzeit-Mutter mit drei kleinen Kindern etwa keine Arbeit im Sinne der
Politiker? Ökonomen haben errechnet, dass in Deutschland jährlich rund ein
Drittel mehr unbezahlte Arbeit (Haushalt, Kindererziehung, Pflege) geleistet
wird als bezahlte Erwerbsarbeit. Der monetäre Wert dieser unbezahlten
Sorgearbeit entspräche vorsichtig geschätzt etwa einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts.
Ohne diese immense Leistung würde die Volkswirtschaft kollabieren.
„Klamheimlich Ausgebeutete“: Dieser Ausdruck benennt jene,
die zwar einen Job haben, aber von ihrer Hände Arbeit nicht leben können. Sie
gelten offiziell als fleißig Beschäftigte, stehen aber oft am Rande der Armut –
und wären die ersten, die bei Kürzung von Sozialleistungen ins Bodenlose
fallen. Ein prägnantes Beispiel sind die Aufstocker: Menschen, die trotz
Erwerbsarbeit auf Sozialleistungen angewiesen sind, weil der Lohn zum Leben
nicht reicht. Rund 826.000 Erwerbstätige erhielten zusätzlich Bürgergeld, um
über die Runden zu kommen. Das kostete den Staat etwa sieben Milliarden Euro im
Jahr.
Fazit: Schluss mit dem Sündenbock-Gerede
Der geflügelte Satz „Die Fleißigen müssen vor den Faulen
geschützt werden“ klingt nach Gerechtigkeit, ist aber in Wahrheit ein
populistischer Kampfbegriff. Er teilt die Gesellschaft in Würdige und Unwürdige
und zielt darauf ab, Sozialkürzungen politisch salonfähig zu machen. Doch wie
aufgezeigt, hält diese Erzählung keinem Faktencheck stand.
Nur eine verschwindende Minderheit an Leistungsbeziehern
verweigert sich Angeboten ernsthaft. Diese wenigen Fälle retten oder ruinieren
weder den Sozialstaat. Strukturelle Probleme wie Bürokratie, ineffiziente
Verwaltung und hochbezahlte Apparatschiks verschlingen dagegen Milliarden –
hier wäre Reformbedarf, nicht bei den Bedürftigen am unteren Ende.
Millionen Menschen arbeiten außerhalb traditioneller
Angestelltenverhältnisse – Freelancer, Kulturschaffende, Eltern,
Geringverdiener – und bekommen von dem angeblichen „Schutz der Fleißigen“ rein
gar nichts ab. Im Gegenteil, sie sind oft die ersten Opfer, wenn Sparpakete
geschnürt und „Leistungen gekürzt“ werden. Ihre Arbeit wird übersehen oder
still ausgenutzt, während man ihnen zugleich unterstellt, sie würden nichts
beitragen.
Der wahre Skandal ist nicht, dass einige Wenige die sozialen
Sicherungssysteme ausnutzen. Der wahre Skandal ist, wie mit solchen
Feindbildern Politik gemacht wird, um von den eigentlichen Baustellen
abzulenken. Es sind billige Sündenböcke, die medial präsentiert werden, während
die stillen Stützen der Gesellschaft – ob in unbezahlter Sorgearbeit, in
prekären Jobs oder im künstlerischen Bereich – kaum Wertschätzung erfahren.
Wer ernsthaft den Sozialstaat retten will, sollte nicht
zuerst nach unten treten, sondern nach oben und nach innen schauen: Wo
versickern Gelder in ineffizienten Strukturen? Wo werden Menschen trotz harter
Arbeit arm gehalten? Wie können alle, die zur Gesellschaft beitragen – auf
welche Weise auch immer – ein Leben in Würde führen, ohne Angst vor Armut?
Die Gleichung „arbeitend = fleißig = gut“ versus
„leistungsbeziehend = faul = schlecht“ ist ein Zerrbild. Fleißig sind nicht nur
die Angestellten mit Stempelkarte, und faul sind nicht die, die das Pech haben,
auf Unterstützung angewiesen zu sein. Ein moderner Sozialstaat darf sich von
solchen einfachen Feindbildern nicht leiten lassen, sondern muss die wirklichen
Probleme lösen – zum Schutz aller Bürger, die täglich ihren Beitrag leisten,
sei er bezahlt oder unbezahlt.
Kurzum: Es ist höchste Zeit, mit dem falschen Vorwurf
aufzuräumen, „Verweigerer“ würden den Sozialstaat ruinieren. Zahlen und Fakten
zeigen unmissverständlich, dass dieses Narrativ haltlos ist. Die wahren
Leistungsträger in Haus und Familie, auf den Theaterbühnen, an den Kassen und
in den Pflegeheimen verdienen Respekt und Unterstützung – und zwar statt der
immer gleichen polemischen Verurteilungen. Denn ein Sozialstaat, der seinen
Namen verdient, steht nicht im Zeichen von Misstrauen und Spaltung, sondern von
Solidarität mit all jenen, die ihn tagtäglich tragen.
Quellen
- Bundesagentur für Arbeit: Bürgergeld – Häufige
Fragen zu Sanktionen und Verweigerung (2024)
- Tagesschau.de, 20.12.2023: „Kaum Totalverweigerer
beim Bürgergeld – neue Sanktionen haben wenig Effekt“
- Bertelsmann-Stiftung (2022): Analyse zur Effizienz
der Jobcenter
- Bundesagentur für Arbeit, Haushaltszahlen 2022/23
(Verwaltungskosten, Förderungsausgaben)
- Handelsblatt, 06.07.2022: „Top-Gehälter bei der
Bundesagentur für Arbeit – Vorstände verdienen mehr als Bundesminister“
- Deutscher Kulturrat, Studie 2018: „Sozioökonomische
Lage von Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland“
- Statistisches Bundesamt (Destatis), 2023: Daten zur
unentgeltlichen Sorgearbeit
- Deutscher Bühnenverein, Tarifinformationen 2022/23
zu Mindestgage im Theater
- Kultur- und Kreativwirtschaftsbericht der
Bundesregierung 2023