13.09.2025

 

Journalisten und ihre Wahrheit 

 oder: Wenn die Feder schneller fabuliert als das Leben

Man kennt das Spiel. Ein Journalist ruft an: „Wir wollen Ihre Geschichte erzählen.“ Klingt schmeichelhaft, als dürfe man endlich selbst zu Wort kommen. Doch spätestens beim fertigen Beitrag merkt man: Es war nie die eigene Geschichte, sondern die des Reporters. Er schreibt nicht, was war, sondern was sich verkauft. Und das sind selten die leisen Zwischentöne, sondern die lauten Knalleffekte.

Die Logik ist simpel: Sensation schlägt Substanz. „Wenn es kracht, dann kracht’s auch in der Auflage.“ Das Publikum verlangt Blut, Tränen und Verrat – und der Journalist liefert. Was nicht in die Dramaturgie passt, wird glattgebügelt. Komplexität stört. Zweifel irritieren. Also wird die Biografie des Porträtierten wie ein Krimi geplottet: Helden, Schurken, Abgründe. Das Ergebnis: ein Märchen im Gewand der Reportage.

Das Problem daran: Wer wirklich gelebt hat, erkennt sich in solchen Texten nicht wieder. Man liest von sich selbst wie von einem Fremden. „War ich das?“ „Habe ich das gesagt?“ Man möchte anrufen und korrigieren, doch das Telefon des Journalisten bleibt stumm. Er ist längst bei der nächsten Story – dem nächsten Opfer.

Natürlich, man könnte sagen: Journalisten sind keine Archivare, sondern Erzähler. Sie erwarten Bilder, keine Bilanzen. Aber wo endet die Erzählung – und wo beginnt die Lüge? Wenn aus einem Gespräch mit einem Glas Wasser in der Hand eine Szene mit „zitternden Fingern am Whisky“ wird, ist das keine Interpretation mehr, sondern Fiktion.

Manche Journalisten rechtfertigen sich mit dem Publikum: „Die Leser wollen es so.“ Ach ja? Die Leser wollen offenbar auch, dass Politiker Helden oder Schurken sind, niemals ambivalente Menschen. Dass Flüchtlinge Heuschrecken sind oder Heilige, aber nie Nachbarn. Das Publikum, heißt es, verträgt keine Grautöne. Nur Schwarz oder Weiß. Dabei wären genau die Grautöne die Wahrheit.

Ironie der Geschichte: Wer viel erlebt hat, wird umso stärker verfälscht. Denn eine bewegte Vergangenheit schreit nach Dramatik. Je mehr Stoff vorhanden ist, desto hemmungsloser wird gebogen. Ein Mann, der etwas gesehen, getan, erlitten hat – er ist für die Medien kein Zeitzeuge, sondern eine Requisite. Seine Rolle: den Plot verstärken.

Und man selbst? Man bleibt der Statist im eigenen Film. Die eigentliche Geschichte – die widersprüchliche, manchmal banale, manchmal tragische Wahrheit – passt nicht ins Drehbuch. Sie ist zu kompliziert, zu wenig quotenträchtig.

Das Bittere daran: Viele Journalisten begreifen nicht, dass sie so Vertrauen verspielen. Der Porträtierte fühlt sich benutzt, das Publikum irgendwann betrogen. Am Ende steht nicht Erkenntnis, sondern Misstrauen: gegen Medien, gegen Berichterstattung, gegen jede Form von Darstellung.

Vielleicht wäre Ehrlichkeit weniger spektakulär – aber nachhaltiger. Ein Leben, das in allen Facetten erzählt wird, ist spannender als jedes konstruierte Drama. Doch dazu bräuchte es Mut zum Leisen, Geduld fürs Widersprüchliche und Respekt vor dem, der sein Leben zur Verfügung stellt.

Solange das nicht passiert, bleibt das Verhältnis zwischen Journalist und Porträtiertem eine Art ungleiche Ehe: Der eine liefert die Wahrheit, der andere macht daraus einen Krimi. Und beide wissen: So richtig stimmt es nicht

Nur der Journalist verkauft es trotzdem.


02.09.2025



 



„Fleißige“ gegen „Faule“

Ein polemischer Mythos und die Fakten

 Politiker im gesamten deutschsprachigen Raum – ob in Deutschland, Österreich oder der Schweiz – bemühen gern ein einfaches Narrativ: Die fleißigen Menschen, die jeden Morgen aufstehen und arbeiten, müssten vor den faulen Sozialleistungsbeziehern geschützt werden. Diese Polemik, wonach der Sozialstaat angeblich von „Arbeitsverweigerern“ ruiniert werde, klingt eingängig. Doch sie hält einer Überprüfung mit Fakten nicht stand. Im Gegenteil: Der wahre Ballast für das Sozialsystem liegt nicht bei ein paar angeblich Drückebergern, sondern in strukturellen Problemen wie Überbürokratie, hohen Verwaltungskosten und der fehlenden Absicherung ganzer Bevölkerungsgruppen. Und die größte Unwahrheit steckt in der Unterstellung, nur klassisch Beschäftigte würden in diesem Land „arbeiten“. Ein genauerer Blick zeigt, wie haltlos und ungerecht dieses Narrativ wirklich ist.

Der Mythos vom Sozialsystem am Abgrund durch „Verweigerer“

Es wird suggeriert, eine nennenswerte Anzahl von Bürgergeld- oder Sozialhilfebeziehern weigere sich beharrlich, zu arbeiten oder auch nur Termine beim Jobcenter wahrzunehmen – und deshalb drohe dem Sozialstaat der Kollaps. Doch die offiziellen Zahlen zeichnen ein völlig anderes Bild. Nur eine verschwindende Minderheit der Leistungsbezieher fällt überhaupt durch Arbeitsverweigerung oder Terminversäumnisse auf.

Von rund 3,9 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeld-Beziehenden in Deutschland wurden im gesamten Jahr 2023 gerade einmal 0,4 Prozent mit Kürzung des Regelsatzes sanktioniert, weil sie ein zumutbares Job- oder Bildungsangebot ablehnten. Das entspricht etwa 15.800 Fällen – verschwindend wenig gemessen an der Gesamtzahl. Selbst wenn man alle Meldeversäumnisse (verpasste Termine) mitzählt, gab es 2023 insgesamt 222.476 Sanktionen – oft geringe Kürzungen von 10 Prozent, etwa für einen verpassten Termin. Viele Betroffene tauchen in dieser Statistik mehrfach auf. Es handelt sich also nicht um Hunderttausende „Totalverweigerer“, sondern größtenteils um einmalige Versäumnisse.

Die Bundesagentur für Arbeit betont selbst: „Die allermeisten Menschen wollen arbeiten.“ Es gebe nur einige wenige Bürgergeld-Beziehende, die zumutbare Arbeit beharrlich verweigern. Auch Sozialexperten kritisieren die politische Panikmache als „Showpolitik“: Die Zahlen zeigen, es gibt so gut wie gar keine Totalverweigerer.

Mit anderen Worten: Die pauschale Anschuldigung, der Sozialstaat werde von Massen an Faulen ausgenutzt, ist durch Fakten nicht belegbar. Im Gegenteil, die überwältigende Mehrheit der Leistungsbezieher will ihre Situation verbessern. Viele schaffen es jedoch nicht sofort aus eigener Kraft – sei es wegen mangelnder Jobangebote, Krankheit, fehlender Betreuung für Kinder oder anderer Hindernisse. Die Fiktion vom Heer der Faulen lenkt davon ab, dass es sich in aller Regel um Menschen in Notlagen handelt, die unterstützt und gefördert werden wollen. Der Sozialstaat kollabiert nicht an ein paar Tausend „Verweigerern“ – ihr Anteil ist schlicht zu gering, um das System ernsthaft zu belasten.

Im Übrigen haben bereits die jüngsten Verschärfungen – etwa die Möglichkeit, „Totalverweigerern“ zeitweise alle Leistungen zu streichen – wenig bis keinen praktischen Effekt gezeigt. Der medial angekündigte „Knallhart“-Kurs entpuppte sich als Rohrkrepierer, weil derartige Extremfälle in der Praxis kaum auftreten. Die populäre Parole „Wer nicht will, der hat schon“ mag sich in Talkshows gut anhören – sie basiert aber auf Einzelfällen und verzerrt völlig das Gesamtbild.

Bürokratie und Manager-Gehälter: Was den Sozialstaat wirklich belastet

Während also die Kosten durch sogenannte Verweigerer minimal sind, gibt es sehr wohl enorme Belastungen des Sozialsystems – nur liegen diese woanders. Experten machen vor allem die ausufernde Bürokratie und hohe Verwaltungskosten verantwortlich. Eine aktuelle Analyse nennt die Verwaltung des Bürgergeld-Systems „teuer, intransparent und wenig effizient“.

Die deutschen Jobcenter verfügten 2022 über ein Budget von 10,7 Milliarden Euro. Davon flossen jedoch nur 3,8 Milliarden in Leistungen zur Arbeitsförderung für Erwerbslose, während die Verwaltungskosten auf 6,5 Milliarden anstiegen. In den letzten zehn Jahren sind die Verwaltungsausgaben – auch bedingt durch steigende Gehälter im System – um 39 Prozent gewachsen. Gleichzeitig stagnierten die Mittel für Weiterbildung, Eingliederung und Förderung der Leistungsbezieher nahezu. Mit anderen Worten: Ein immer größerer Teil des Geldes versickert im Verwaltungsapparat, statt den Betroffenen direkt zu helfen.

Hinzu kommt, dass im Sozialsystem erhebliche Gehälter-Unterschiede bestehen. Während Sachbearbeiter und „kleine“ Angestellte in Jobcentern vergleichsweise moderate Einkommen beziehen, verdienen die Spitzenmanager der Sozialbehörden teils exorbitante Summen. So erhielt der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit pro Person rund 300.000 Euro jährlich – auf Höhe eines Bundesministers. Zum Vergleich: Ein regulärer Fallmanager im Jobcenter verdient je nach Erfahrung vielleicht 40.000 bis 50.000 Euro im Jahr. Hier von „Gerechtigkeit gegenüber den Fleißigen“ zu sprechen, erscheint zynisch: Oben werden Spitzengehälter gezahlt, während unten dieselbe Politik jeder Kassiererin und jedem Paketboten predigt, sie müssten den Gürtel enger schnallen, weil sonst „der Sozialstaat nicht finanzierbar“ sei.

Wer arbeitet wirklich? Die übersehenen Leistungsträger

Der vielleicht perfideste Aspekt des „fleißig vs. faul“-Denkens ist die Unterstellung, nur sozialversicherungspflichtig Beschäftigte würden in diesem Land etwas leisten. Implizit werden damit Millionen Menschen abgewertet, die nicht in einem klassischen Angestelltenverhältnis arbeiten – als wären sie alle im „Dauerurlaub“.

Freiberufler und Soloselbständige: Weit über zwei Millionen Menschen in Deutschland arbeiten als Selbständige oder Freiberufler – seien es IT-Fachleute, Journalisten, Handwerker, Künstler oder Schriftsteller. Diese Menschen haben keinen festen Lohn, keine automatische Arbeitslosenversicherung und oft unsichere Auftragslagen. Nur die allerwenigsten Autoren erzielen Bestseller-Einnahmen; die meisten kommen finanziell kaum über die Runden. Das durchschnittliche Jahreseinkommen selbständiger Künstler liegt bei unter 20.000 Euro – kaum genug zum Leben.

Kulturschaffende und Kreative: Schauspieler, Bühnenkünstler, Musiker – sie bereichern die Gesellschaft kulturell und erwirtschaften auch ökonomisch einen erheblichen Anteil. Die Kultur- und Kreativwirtschaft setzte in Deutschland über 200 Milliarden Euro um, rund 2,2 Prozent des gesamten Wirtschaftsumsatzes. Doch die einzelnen Künstler sehen davon wenig. Theaterschauspieler etwa werden oft miserabel bezahlt. Bis vor Kurzem galt eine Mindestgage von gerade 1.765 Euro brutto im Monat, nun leicht angehoben. Viele können von solchen Gagen kaum leben. Nebenjobs sind selbst unter fest engagierten Bühnenkünstlern keine Seltenheit.

Eltern und Hausarbeit Leistende: Was ist mit den Hausfrauen und Hausmännern, die ihre Kinder erziehen oder Angehörige pflegen? Leistet eine Vollzeit-Mutter mit drei kleinen Kindern etwa keine Arbeit im Sinne der Politiker? Ökonomen haben errechnet, dass in Deutschland jährlich rund ein Drittel mehr unbezahlte Arbeit (Haushalt, Kindererziehung, Pflege) geleistet wird als bezahlte Erwerbsarbeit. Der monetäre Wert dieser unbezahlten Sorgearbeit entspräche vorsichtig geschätzt etwa einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Ohne diese immense Leistung würde die Volkswirtschaft kollabieren.

„Klamheimlich Ausgebeutete“: Dieser Ausdruck benennt jene, die zwar einen Job haben, aber von ihrer Hände Arbeit nicht leben können. Sie gelten offiziell als fleißig Beschäftigte, stehen aber oft am Rande der Armut – und wären die ersten, die bei Kürzung von Sozialleistungen ins Bodenlose fallen. Ein prägnantes Beispiel sind die Aufstocker: Menschen, die trotz Erwerbsarbeit auf Sozialleistungen angewiesen sind, weil der Lohn zum Leben nicht reicht. Rund 826.000 Erwerbstätige erhielten zusätzlich Bürgergeld, um über die Runden zu kommen. Das kostete den Staat etwa sieben Milliarden Euro im Jahr.

Fazit: Schluss mit dem Sündenbock-Gerede

Der geflügelte Satz „Die Fleißigen müssen vor den Faulen geschützt werden“ klingt nach Gerechtigkeit, ist aber in Wahrheit ein populistischer Kampfbegriff. Er teilt die Gesellschaft in Würdige und Unwürdige und zielt darauf ab, Sozialkürzungen politisch salonfähig zu machen. Doch wie aufgezeigt, hält diese Erzählung keinem Faktencheck stand.

Nur eine verschwindende Minderheit an Leistungsbeziehern verweigert sich Angeboten ernsthaft. Diese wenigen Fälle retten oder ruinieren weder den Sozialstaat. Strukturelle Probleme wie Bürokratie, ineffiziente Verwaltung und hochbezahlte Apparatschiks verschlingen dagegen Milliarden – hier wäre Reformbedarf, nicht bei den Bedürftigen am unteren Ende.

Millionen Menschen arbeiten außerhalb traditioneller Angestelltenverhältnisse – Freelancer, Kulturschaffende, Eltern, Geringverdiener – und bekommen von dem angeblichen „Schutz der Fleißigen“ rein gar nichts ab. Im Gegenteil, sie sind oft die ersten Opfer, wenn Sparpakete geschnürt und „Leistungen gekürzt“ werden. Ihre Arbeit wird übersehen oder still ausgenutzt, während man ihnen zugleich unterstellt, sie würden nichts beitragen.

Der wahre Skandal ist nicht, dass einige Wenige die sozialen Sicherungssysteme ausnutzen. Der wahre Skandal ist, wie mit solchen Feindbildern Politik gemacht wird, um von den eigentlichen Baustellen abzulenken. Es sind billige Sündenböcke, die medial präsentiert werden, während die stillen Stützen der Gesellschaft – ob in unbezahlter Sorgearbeit, in prekären Jobs oder im künstlerischen Bereich – kaum Wertschätzung erfahren.

Wer ernsthaft den Sozialstaat retten will, sollte nicht zuerst nach unten treten, sondern nach oben und nach innen schauen: Wo versickern Gelder in ineffizienten Strukturen? Wo werden Menschen trotz harter Arbeit arm gehalten? Wie können alle, die zur Gesellschaft beitragen – auf welche Weise auch immer – ein Leben in Würde führen, ohne Angst vor Armut?

Die Gleichung „arbeitend = fleißig = gut“ versus „leistungsbeziehend = faul = schlecht“ ist ein Zerrbild. Fleißig sind nicht nur die Angestellten mit Stempelkarte, und faul sind nicht die, die das Pech haben, auf Unterstützung angewiesen zu sein. Ein moderner Sozialstaat darf sich von solchen einfachen Feindbildern nicht leiten lassen, sondern muss die wirklichen Probleme lösen – zum Schutz aller Bürger, die täglich ihren Beitrag leisten, sei er bezahlt oder unbezahlt.

Kurzum: Es ist höchste Zeit, mit dem falschen Vorwurf aufzuräumen, „Verweigerer“ würden den Sozialstaat ruinieren. Zahlen und Fakten zeigen unmissverständlich, dass dieses Narrativ haltlos ist. Die wahren Leistungsträger in Haus und Familie, auf den Theaterbühnen, an den Kassen und in den Pflegeheimen verdienen Respekt und Unterstützung – und zwar statt der immer gleichen polemischen Verurteilungen. Denn ein Sozialstaat, der seinen Namen verdient, steht nicht im Zeichen von Misstrauen und Spaltung, sondern von Solidarität mit all jenen, die ihn tagtäglich tragen.


Quellen

  1. Bundesagentur für Arbeit: Bürgergeld – Häufige Fragen zu Sanktionen und Verweigerung (2024)
  2. Tagesschau.de, 20.12.2023: „Kaum Totalverweigerer beim Bürgergeld – neue Sanktionen haben wenig Effekt“
  3. Bertelsmann-Stiftung (2022): Analyse zur Effizienz der Jobcenter
  4. Bundesagentur für Arbeit, Haushaltszahlen 2022/23 (Verwaltungskosten, Förderungsausgaben)
  5. Handelsblatt, 06.07.2022: „Top-Gehälter bei der Bundesagentur für Arbeit – Vorstände verdienen mehr als Bundesminister“
  6. Deutscher Kulturrat, Studie 2018: „Sozioökonomische Lage von Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland“
  7. Statistisches Bundesamt (Destatis), 2023: Daten zur unentgeltlichen Sorgearbeit
  8. Deutscher Bühnenverein, Tarifinformationen 2022/23 zu Mindestgage im Theater
  9. Kultur- und Kreativwirtschaftsbericht der Bundesregierung 2023

31.08.2025

 

 

Warum Menschen gegen sich selbst wählen

Wenn Arbeitslose und Arbeiter Parteien unterstützen, die Sozialstaat und Umverteilung schwächen wollen, wirkt das wie ein politisches Paradox. Doch Gefühle, Trotz und Ressentiments sind oft stärker als nüchterne Interessen.

Wählt „der Verlierer“ gegen sich selbst?

 Die Zahlen der Europawahl 2024 zeigen ein widersprüchliches Bild:
Unter Arbeitslosen erreichte die AfD 25,5 Prozent – mehr als jede andere Partei. Unter Arbeitern kam sie auf 25 Prozent, fast gleichauf mit CDU/CSU (28 %). Die SPD, einst „Arbeiterpartei“, erreichte in dieser Gruppe nur noch 14 Prozent. Auch bei Menschen mit Hauptschulabschluss punktete die AfD (18,7 %), während die Union mit 41 Prozent dominierte.

Ökonomisch betrachtet, wählen viele also gegen ihre Interessen. Parteien, die den Sozialstaat stärken wollen, schneiden bei jenen schwach ab, die am meisten davon abhängig sind.

Die Partei der Nichtwähler

Mindestens ebenso paradox ist, wer gar nicht wählt. In prekären Stadtteilen liegt die Wahlbeteiligung oft 10 bis 20 Punkte unter dem Durchschnitt. Bei der Bundestagswahl 2021 lag die Gesamtbeteiligung bei 76,6 % – in sozialen Brennpunkten mancher Großstädte aber bei weniger als 50 %.
Die eigentliche Mehrheit der Abgehängten ist also nicht AfD, sondern Nichtwahl. Politische Selbstentmachtung in Reinform.

Gefühle statt Fakten

Warum entscheiden sich so viele für Parteien, die ihnen objektiv schaden?
Die Antwort ist so einfach wie unbequem: Gefühle steuern stärker als Fakten.

  • Angst vor Abstieg
  • Wut auf „die da oben“
  • Misstrauen gegen Institutionen
  • Kränkung, nicht gehört zu werden

Die AfD bietet dafür eine klare Projektionsfläche: Schuld seien Migranten, Brüssel, Berlin. So ersetzt eine einfache Feindmarke jede komplexe Politik.

Dauer-Nörgeln als Weltanschauung

Deutschland ist ein Land der Kritikaster. Bahn, Rundfunk, Regierung – alles wird schlechtgeredet. Dieses Grundrauschen des Nörgelns prägt den Blick vieler Menschen: Alles ist Betrug, alles läuft schief. Parteien, die diese Stimmung noch verstärken, können darauf bauen, dass Nörgeln eines Tages in Proteststimmen mündet.

Besserwissen von unten

„Wir hier unten wissen es besser als die da oben.“
Dieser Satz gibt Selbstwert zurück. Wer sich abgehängt fühlt, macht sich selbst zur moralischen Instanz. Ein Kreuz bei einer Protestpartei fühlt sich an wie ein Triumph über die Eliten – auch wenn es die eigenen Lebensbedingungen verschlechtert.

Protest als Lustgewinn

Viele geben offen zu: „Ich möchte denen eins auswischen.“ Politik wird zum Ventil, der Wahlzettel zum Faustschlag. Politikwissenschaftler nennen das expressives Wählen: nicht Interessenvertretung, sondern Trotz – ein Akt des Lustgewinns.

Der exklusive Sozialstaat

Die AfD inszeniert sich zugleich als Verteidigerin des Sozialstaats – allerdings nur für Deutsche. Wer fürchtet, sein knappes Stück vom Kuchen teilen zu müssen, findet hier Bestätigung. Es ist kein „mehr für alle“, sondern ein „nur für uns“.

Die paradoxen Züge sind unübersehbar: 

Wer wählt, entscheidet sich oft gegen die eigenen ökonomischen Interessen. Wer nicht wählt, verzichtet gleich ganz auf Einfluss.

So stemmen sich die Abgehängten gegen Parteien, die ihnen helfen könnten, und lassen sich zugleich von Wut, Trotz und Ressentiments treiben.

Es ist, als würde jemand den Rettungsring wegstoßen, weil ihm die Farbe nicht gefällt – und dabei überzeugt sein, endlich die Oberhand gewonnen zu haben.

„Herr der Lage?“

Oder lieber darüber nachdenken, dass „die da oben“ auch nach eigenem Verständnis DIENER der „die da unten“ sind und zu sein haben?

Dann entfiele der Wunsch, denen eins auszuwischen.

Man wäre ja selbst das Opfer, nicht?

Das Verlangen, eines zu sein, hat, wie ich hörte, in der Regel masochistische Grundzüge, oder wie? 

28.08.2025

 

 Quacksalber 2.0

Warum das Netz voller Wunder bleibt

Im 19. Jahrhundert schworen fahrende Händler auf „Snake Oil“ – angeblich gut gegen alles: Rheuma, Haarausfall, Herzweh. Heute benötigen die Quacksalber keinen Karren mehr. Ein Algorithmus reicht. Und die Ware ist dieselbe: Hoffnung im Sonderangebot.

Die Schlagzeilen sind bekannt:

  • „Bundesregierung verabschiedet neues Solargesetz!“ – seit Jahren im Umlauf, egal, was tatsächlich beschlossen wurde.
  • „Dieses eine Gemüse lässt Ihr Bauchfett sofort schmelzen!“ – wahlweise Gurke, Tomate oder Spinat.
  • „Blutdruck sofort senken – Ärzte hassen diesen Trick!“ – Dahinter stecken zweifelhafte Pillen, selten seriöse Medizin.

Dazu die Tiernummer: „Welpe springt in den Löwenkäfig – und überlebt!“ Alte Fotos, neue Überschrift, garantiert klickstark. Die Wahrheit – dass ein solches Abenteuer für den Welpen meist tödlich endet – fällt unter den Tisch.

Das Muster ist simpel: Angst, Hoffnung, Geheimnis. Wer klickt, bekommt keine Information, sondern eine verlängerte Vertröstung. Und wer zu lange vertraut, riskiert nicht nur sein Geld, sondern mitunter auch
seine Gesundheit.

Neu ist nur die Technik. Aus Marktschreiern wurden Content-Generatoren. Aus Pferdewagen Push-Nachrichten. Die Tinktur heißt nicht mehr „Dr. Smith’s Elixier“, sondern „Geheimtipp, den Ärzte verschweigen“.

Die Verantwortung liegt nicht allein bei dubiosen Portalen. Sie liegt auch bei uns. Denn wir klicken, wir teilen, wir lassen uns verführen. So lebt der Quacksalber weiter – digital, global und mit Reichweite.

Und die beste Medizin dagegen? Kritisch lesen. Oder einfach mal das WLAN ausschalten. Das senkt nachweislich den Blutdruck – sofort.