Journalisten und ihre Wahrheit
oder: Wenn die Feder schneller fabuliert als das Leben
Man kennt das Spiel. Ein Journalist ruft an: „Wir wollen Ihre Geschichte erzählen.“ Klingt schmeichelhaft, als dürfe man endlich selbst zu Wort kommen. Doch spätestens beim fertigen Beitrag merkt man: Es war nie die eigene Geschichte, sondern die des Reporters. Er schreibt nicht, was war, sondern was sich verkauft. Und das sind selten die leisen Zwischentöne, sondern die lauten Knalleffekte.Die Logik ist simpel: Sensation schlägt Substanz. „Wenn es kracht, dann kracht’s auch in der Auflage.“ Das Publikum verlangt Blut, Tränen und Verrat – und der Journalist liefert. Was nicht in die Dramaturgie passt, wird glattgebügelt. Komplexität stört. Zweifel irritieren. Also wird die Biografie des Porträtierten wie ein Krimi geplottet: Helden, Schurken, Abgründe. Das Ergebnis: ein Märchen im Gewand der Reportage.
Das Problem daran: Wer wirklich gelebt hat, erkennt sich in solchen Texten nicht wieder. Man liest von sich selbst wie von einem Fremden. „War ich das?“ „Habe ich das gesagt?“ Man möchte anrufen und korrigieren, doch das Telefon des Journalisten bleibt stumm. Er ist längst bei der nächsten Story – dem nächsten Opfer.
Natürlich, man könnte sagen: Journalisten sind keine Archivare, sondern Erzähler. Sie erwarten Bilder, keine Bilanzen. Aber wo endet die Erzählung – und wo beginnt die Lüge? Wenn aus einem Gespräch mit einem Glas Wasser in der Hand eine Szene mit „zitternden Fingern am Whisky“ wird, ist das keine Interpretation mehr, sondern Fiktion.
Manche Journalisten rechtfertigen sich mit dem Publikum: „Die Leser wollen es so.“ Ach ja? Die Leser wollen offenbar auch, dass Politiker Helden oder Schurken sind, niemals ambivalente Menschen. Dass Flüchtlinge Heuschrecken sind oder Heilige, aber nie Nachbarn. Das Publikum, heißt es, verträgt keine Grautöne. Nur Schwarz oder Weiß. Dabei wären genau die Grautöne die Wahrheit.
Ironie der Geschichte: Wer viel erlebt hat, wird umso stärker verfälscht. Denn eine bewegte Vergangenheit schreit nach Dramatik. Je mehr Stoff vorhanden ist, desto hemmungsloser wird gebogen. Ein Mann, der etwas gesehen, getan, erlitten hat – er ist für die Medien kein Zeitzeuge, sondern eine Requisite. Seine Rolle: den Plot verstärken.
Und man selbst? Man bleibt der Statist im eigenen Film. Die eigentliche Geschichte – die widersprüchliche, manchmal banale, manchmal tragische Wahrheit – passt nicht ins Drehbuch. Sie ist zu kompliziert, zu wenig quotenträchtig.
Das Bittere daran: Viele Journalisten begreifen nicht, dass sie so Vertrauen verspielen. Der Porträtierte fühlt sich benutzt, das Publikum irgendwann betrogen. Am Ende steht nicht Erkenntnis, sondern Misstrauen: gegen Medien, gegen Berichterstattung, gegen jede Form von Darstellung.
Vielleicht wäre Ehrlichkeit weniger spektakulär – aber nachhaltiger. Ein Leben, das in allen Facetten erzählt wird, ist spannender als jedes konstruierte Drama. Doch dazu bräuchte es Mut zum Leisen, Geduld fürs Widersprüchliche und Respekt vor dem, der sein Leben zur Verfügung stellt.
Solange das nicht passiert, bleibt das Verhältnis zwischen Journalist und Porträtiertem eine Art ungleiche Ehe: Der eine liefert die Wahrheit, der andere macht daraus einen Krimi. Und beide wissen: So richtig stimmt es nicht
Nur der Journalist verkauft es trotzdem.