01.10.2025


Verführung durch Glauben – und Ideologie

Warum Wahrheitsmonopole Gewalt erzeugen

Ob sakral oder säkular: Wo eine Lehre die Wahrheit für sich beansprucht, werden aus Andersdenkenden Gegner. Geschichte und Gegenwart zeigen das Muster. Die offene Frage: Was heißt dann „Glaubensfreiheit“ – Schutzschirm für alle Ansprüche oder gezielte Sicherung für Minderheiten?

Menschen hassen Ungewissheit. Unser Kopf sucht Ursachen, oft Personen hinter Ereignissen. Aus diesem Reflex entstehen Erzählungen, aus Erzählungen Rituale, aus Ritualen Religionen. Das stiftet Sinn. Es bindet Gruppen. Es ordnet die Welt in „heilig“ und „profan“. Problematisch wird es, wenn diese Ordnung zum Wahrheitsmonopol verhärtet.

Wenn Gewissheit zur Waffe wird

Religiöse Konflikte sind fast nie „rein religiös“. Macht, Territorium, Ökonomie mischen mit. Aber die Dogmatik liefert die moralische Lizenz. Die Kreuzzugsformel „Gott will es“; die Bartholomäusnacht; der Dreißigjährige Krieg; millenaristische Aufstände wie die Taiping-Rebellion; die Pogrome der Indien-Partition – überall derselbe Griff: Heilsgewissheit legitimiert Gewalt.

Zwischenfazit: Religion kann trösten und Gemeinsinn organisieren. Gefährlich wird sie, wo sie Abweichung nicht erträgt.

Ideologien: dieselbe Mechanik ohne Gott

Totalitäre Ideologien kopieren das Muster, nur ohne Transzendenz. Der Nationalsozialismus als Heilslehre um „Volk“ und „Führer“. Der Leninismus mit der angeblich „wissenschaftlichen“ Avantgardepartei. Heute der Populismus, meist rechts, gelegentlich links, mit dem Satz: „Nur wir vertreten das wahre Volk.“ Der Kern ist identisch: Wahrheitsmonopol → Feindmarkierung → Herrschaft.

Das Funktionsschema

  1. Sinnversprechen in der Krise.

  2. Wahrheitsanspruch („Gott/Idee/Volk spricht durch uns“).

  3. Delegitimation der Abweichung (Ketzer, Lügner, „Volksfeinde“).

  4. Zwangsrechtfertigung als moralische Pflicht.

  5. Immunisierung gegen Kritik.

Wer dieses Schema einmal verstanden hat, erkennt es wieder – in Kanzelreden, Parteitagen, Telegram-Kanälen.

Die politische Antwort

  • Offene Gesellschaft verteidigen: Kritik ermöglichen, Fakten prüfen, Macht begrenzen.

  • Pluralität lehren: Herkunft von Glauben und Ideologie erklären, statt Heilsversprechen zu romantisieren.

  • Institutionelle Demut einüben: Keine Organisation – Kirche, Partei, Bewegung – ist über Widerspruch erhaben.

Glaubensfreiheit – absolut oder gezielt?

Hier wird es heikel. „Glaubensfreiheit“ gilt als unantastbar. Zu Recht – als Abwehrrecht gegen staatliche Bevormundung. Aber die Praxis hat einen blinden Fleck: Wenn jede noch so wahrheitsversessene Lehre gleichermaßen sakrosankt behandelt wird, trainieren wir Unantastbarkeit auch dort ein, wo die Lehre anderen die Freiheit abspricht.

Frage 1: Ist eine absolute Glaubensfreiheit sinnvoll, die jeglichen Wahrheitsabsolutismus unter denselben Schutz stellt – auch dann, wenn er offen anti-pluralistisch auftritt?

Frage 2: Oder verstehen wir Glaubensfreiheit präziser: als Instrument zum Schutz von Personen und kleinen Gemeinschaften, damit sie ungestört glauben, feiern, zweifeln können – solange ihre Praxis die gleichen Freiheits- und Gleichheitsrechte anderer nicht verletzt?

Diese Präzisierung wäre kein Angriff auf die Religion. Sie wäre eine Rückbesinnung auf den liberalen Kern: Der Staat schützt Menschen in ihrer Überzeugung – nicht Überzeugungen vor Kritik. Wer mit einem Wahrheitsmonopol in die Öffentlichkeit tritt und daraus Herrschaft oder Sonderrechte ableitet, muss sich Widerspruch, Satire, Gegenrede gefallen lassen. Und wenn aus Lehre Zwang wird – ob sakral oder säkular –, endet der Schutz. Dort beginnen die Grenzen einer freiheitlichen Ordnung.

Glaube entsteht aus Sinnsuche, Ideologie aus dem Wunsch nach Deutungshoheit. Gefährlich werden beide, wenn sie unfehlbar auftreten. Eine klügere Lesart der Glaubensfreiheit schützt die Schwachen, nicht die Unfehlbaren. Sie schützt die Freiheit zu glauben – und die Freiheit, nein zu sagen. Genau darin liegt der Unterschied zwischen Trost und Zwang, zwischen Gemeinschaft und Gewalt.

 

28.09.2025

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Der Experte – Schutzpatron des Unwissens

Wenn Politiker nicht mehr weiterwissen, rufen sie den „Beraterkreis“. Dort sitzen dann Menschen mit grauen Schläfen und ernsten Gesichtern, die Papiere wälzen, Statistiken zitieren und am Ende eine Empfehlung abgeben, die genauso unverbindlich ist wie das Wetter im April. Das Schöne daran: Der Politiker hat sein Alibi. „Ich habe die Experten gefragt.“ Wenn’s schiefgeht, war’s nicht er.

Ein genialer Trick – und die Medien haben ihn übernommen.

Experten als Lückenfüller

Man könnte glauben, die journalistische Grundaufgabe sei es, Informationen zu recherchieren. Inzwischen reicht es aber offenbar, eine Studiotür aufzumachen und den Nächstbesten hereinzuwinken. Titel? Am besten Professor. Fachgebiet? Nebensache. Hauptsache, man kann ihn in den Bauchbinden als „Experte“ ankündigen.

So sitzt der Politologe am Montag im Studio, erklärt die Ukrainefront, am Dienstag die Inflation, am Mittwoch das Klima. Universalgelehrte, wie man sie seit Leonardo da Vinci nicht mehr gesehen hat.

Der Unterschied: Leonardo war ein Universalgenie.

Klassiker des Irrtums (Magere Auswahl)

  • 2008, Finanzkrise: „Alles halb so wild, Europa bleibt verschont.“ Zwei Wochen später war Lehman pleite und die halbe Bankenwelt gleich mit.

  • 2020, Corona: „Masken bringen nichts.“ – „Masken sind unverzichtbar.“ – „Masken nur draußen.“ – „Masken nur drinnen.“ Der Bürger lernte vor allem eines: Man kann gleichzeitig recht haben und unrecht.

  • 2022, Ukraine: „Russland nimmt Kiew in drei Tagen.“ Tatsächlich zogen sich die russischen Panzer nach Wochen zurück, teilweise zu Fuß.

Und trotzdem sitzen dieselben Gesichter heute wieder vor Kameras und erklären, warum sie damals natürlich recht hatten, nur „im falschen Kontext“.

Der Zuschauer als Versuchskaninchen

Der Zuschauer darf derweil staunen, wie elegant Meinungen als Nachrichten verkauft werden. „Die Meldung konnte nicht bestätigt werden“, heißt es, aber keine Sorge: Der Experte hat ja eine Meinung! Und eine Meinung ersetzt bekanntlich jede Recherche.

Früher war die Zeitung voller Fakten. Heute ist das Studio voller Experten.

Satirische Zwischenfrage

Was kommt als Nächstes? Der Wetterexperte, der uns nach einem Blick in den Himmel versichert: „Es könnte regnen, aber auch nicht.“ Oder der Kaffee-Experte, der im Morgenmagazin erklärt, dass Bohnen grundsätzlich braun sind, aber auch mal schwarz wirken können.

Seriös verpackt, versteht sich.

Die Alternative: Mut zum Nichtwissen

Man könnte es so einfach haben: Journalisten sagen, was sie wissen. Und was nicht. Drei Spalten würden genügen:

  1. Gesichert.

  2. Unklar.

  3. Noch offen.

Das wäre ehrlicher als jedes „Expertenpanel“ und würde den Bürger nicht wie ein unmündiges Kind behandeln.

Denn die wahre Nachricht ist manchmal nicht das, was man weiß – sondern das, was man bislang nicht weiß.