Querblatt ( http://www.querblatt.com)
über Bitteres Blut:
Kriminalrat Timmermans nimmt langsam Fahrt auf. Auf seine
unnachahmliche Art holt der Dienststellenleiter erst einmal in aller Ruhe aus,
um den neuen Kollegen zunächst etwas zappeln zu lassen. Schließlich hat er sich
als großes Vorbild nie etwas zuschulden kommen lassen. Erst nach 22 Jahren
Dienst hat es eine Beschwerde gegeben. Bei Kollege Lorinser dagegen dauerte es
gerade mal 14 Tage. Der Kriminalobermeister ist sich zunächst keinerlei Schuld
bewusst und fragt sich, was er wohl dazu beigetragen haben könnte, das hohe
Ansehen von Timmermans Dienststelle derart ernsthaft beschädigt zu haben.
Timmerman möchte wissen, ob sein Untergebener aus
irgendeiner Überzeugung Polizist geworden sei. Dies kann Lorinser nicht nur
umgehend beantworten, sondern weiß seine Aussage auch noch zu unterstreichen,
denn niemand Geringeres als der gute alte Jean Gabin in seiner Paraderolle als
Kommissar Maigret diente ihm einst als Anregung und Motivation für seinen
beruflichen Werdegang. Was er nicht erwähnt, sind weitere Gründe, die in den
dunkleren Passagen seiner Erinnerungen herumlungern ...
Schließlich kommt der Kriminalrat zur Sache und berichtet
von einem Telefongespräch mit dem Landtagsabgeordneten Reets, der seinerseits
ein Telefongespräch mit dem Bürgermeister von Lemförde führte. Eine gewisse
Gertraude Simmerau hätte sich nach einer Befragung durch den Kriminalobermeister
beschwert, der ihr in unangemessenem Ton zu nahe getreten sei ...
Der Kollege Steinbrecher hat es ebenfalls nicht leicht, auch
wenn sich seine Probleme in anderen Dimensionen bewegen. Der Hauptkommissar ist
geschieden, und es ranken sich einige sehr unangenehme Geschichten um ihn.
Einige Wochen vor Dienstantritt des Kollegen Lorinser ist er von einem
"wahren Drachen" geschieden worden. Die resolute Dame führte nicht
nur ein strenges Regiment in der ehelichen Burg, sondern gab bei der Abschiedsvorstellung
vor dem Scheidungsrichter eine Vorstellung und einen Abgang der besonderen Art.
Vor den Augen aller Beteiligten orfeigte sie ihn nicht nur, sondern bezeichnete
ihren frischgebackenen Ex-Ehemann als "onanierenden Rohrkrepierer", der
noch nicht einmal in der Lage sei, sich seine Schuhe selbst zu binden, worauf
dieser sich den größten aller Fehler leistete, gänzlich unmännlich in Tränen
auszubrechen und ohne erkennbare Gegenwehr die Flucht zu ergreifen ...
Was das alles mit dem Fall zu tun hat? Wenig und doch
irgendwie viel. "Bitteres Blut" lebt nicht von einer platt erzählten
Geschichte, sondern auch und vor allem durch die beteiligten Personen. Willi
Voss versteht es auf eine ganz besondere Weise, seinen Personen absoluten
Vorrang im Rahmen der eigentlichen Handlung einzuräumen. Die hat es dennoch in
sich, denn zunächst geht es um eine Leiche, die sich insofern einer
Gegenständlichkeit entzieht, indem sie verschwunden ist. Bauer Hollenberg hat
alle Mühe, Kriminalobermeister Lorinser zu überzeugen, dass an einem Denkmal in
Lemförde eine männliche Leiche hing. Der Beweis wäre schließlich das
zurückgebliebene Seil und ein schwarzer Turnschuh. Und der Tote wäre auch ganz
und gar kein Unbekannter ...
Bitteres Blut ist ein Krimi-Konzentrat, vollgepackt mit
einer Armada von Verdächtigen, einem großen Aufgebot an Charakterdarstellern,
einem von Missgunst und Neid durchsetzten Ermittlerteam, Kollegen, die in ihren
privaten Befindlichkeiten schier zu versinken drohen, einem "Mount Everest
an Ermittlungsarbeit" und einem Kriminalobermeister, der sich sowohl mit
der Psychologie seiner engsten Mitarbeiter als auch und insbesondere mit der
seiner Vorgesetzten klug taktierend und abwägend auseinandersetzt. Überhaupt
erfährt Lorinser - begeistereter VFL-Bochum-Fan, Isabella-Fahrer ("Das ist
ein Borgward und keine Isetta!") und ein Könner in Sachen
"instinktiver Mathematik" - eine außerordentlich sensible
Charakterzeichnung, und ebenfalls viel Zeit dürfen wir damit verbringen, wie
sich seine sachbezogenen sowie allgemeine Beobachtungen gestalten und wie aus
dem Nichts herausschälen. Auch ans Eingemachte geht es und zwar spätestens,
wenn Erinnerungen an den Vater wach werden ... denn hier nähern sich
existenzielle Fragen an einen Fall ins Bodenlose, gegen den der Sohn aber
weitgehend immun zu sein scheint.
Nicht weniger unproblematisch sind oscarreif besetzte
Nebenrollen, wie die des Bauern Hollenberg, Lorinsers chaotischer Schwester
Katta oder seiner gar nicht mal so unprominenten Freundin Paula. Willi Voss
gestaltet seine Protagonisten derart plastisch und lebensnah, dass der ans Buch
genagelte Leser glatt ohne die krimiüblichen Zutaten auskommen könnte. Was ist
schon ein simpler Mord gegen die ganzen Mauscheleien im Hintergrund,
bürokratischen Stolperfallen, die großen und kleinen Schweinereien, die im
Verborgenen und im Hintergrund von bürgerlichem Fassadenleben wahre Stilblüten
treiben, tief in der Vergangenheit verwurzelte Familienkriege, jung gebliebener
Hass nach politisch bedingter Flucht im dritten Reich, Lug und Trug hinter
vorgehaltener Hand und dem ganzen sumpfigen Morast aus Ehebruch, verlogener
Moral, Macht- und Geldgier!?
Mein erster Favorit im vielversprechenden Frühjahrsprogramm
des Sutton Verlags. Ein Krimi mit Hirn, Tiefgang und unkonventionellem Ende.
Thomas Lawall - April 2012
Krimicouch über "Bitteres Blut":
"Vor anderthalb Jahren erschien nach Jahren der literarischen Stille – von der Wiederveröffentlichung einiger ausgezeichneter früherer Werke wie Gegner und Die Nacht, der Tod abgesehen – Willi Voss´ neuer Roman Die Pforte des Todes. Ein leichter Hauch Mystery gab dem ansonsten höchst erdverbundenen Polizeiroman eine ungewohnte, aber passende Note. Obwohl Voss seit Jahren in Berlin lebt, spielte Die Pforte des Todes im kleinstädtischen Umfeld des Herrmann-Denkmals. Und auch Bitteres Blut kehrt nicht zurück in die Metropole, sondern verkrümelt sich noch weiter auf’s Land, nach Diepholz, ins bäuerliche Milieu des Dümmer Sees. Doch es braucht keine Großstadt, um schmutzige Verbrechen, Niedertracht und Menschen am Rande eines Kollapses zusammenzubringen.
Katalysator und Protagonist des Geschehens ist Oberkommissar Lorinser, der sich, frisch versetzt aus dem Ruhrgebiet, mit einem möglichen Selbstmord konfrontiert sieht. Kleines Problem dabei: Die Leiche des mutmaßlichen Selbstmörders ist verschwunden. Lorinser wittert einen Fall, denn der junge Thorsten Böse war alles andere als ein Unschuldslamm und sein Stiefvater so etwas wie die Nemesis des Ortes. Ein verbitterter alter Mann, der dörflichen Gemeinschaft durch seine wortkarge Schroffheit, seine Klagefreudigkeit unangenehm aufstieß. Und den Alteingesessenen wegen seiner Standhaftigkeit im Dritten Reich, die Böses Familie nur unter Schikanen und mit viel Glück halbwegs heil überstand, als lebendes Mahnmal ein Dorn im Auge
Lorinser ermittelt, tritt seinen Mitmenschen auf die Füße, muss sich gegen seine Vorgesetzten behaupten, die ihn von dem anscheinend nicht vorhandenen fall abziehen wollen. So dauert es rund 150 Seiten, in denen wir Menschen begegnen, die sich spinnefeind sind, belauern und stets auf der Fehlersuche, natürlich bei anderen, sind, ehe Böse Juniors Leiche auftaucht und mit ihr der begründete Verdacht, dass es sich bei Böses Tod keineswegs um Suizid, sondern um Mord handelt. Mögliche Täter(innen) stehen Schlange.
Überzeugend zeichnet Voss die geistige Enge des dörflichen Lebens, die Ressentiments und Limitationen. Vermeidet aber ein allzu plakativ-abschreckendes Bild zu zeichnen. Denn die Gegenentwürfe gibt es sehr wohl, manchmal in alternativen Lebensformen, im gemeinsamen Engagement (gegen rein profitorientierte Baumaßnahmen beispielsweise), aber auch dort, wo man es nicht unbedingt erwartet, und sei es in störrischer Standhaftigkeit.
Voss kennt Land und Leute, das merkt man dem Buch mit fast jeder Seite an. So verwundert es auch nicht, dass Autobiographisches einfließt und jene Figur wieder auftaucht, um auf die Suche nach ihrem Schöpfer zu gehen, die Willi Voss vor Jahrzehnten in einer lesenswerten Serie auftreten ließ: Holger Fleestedt. Sein Cameo-Auftritt und das Zusammentreffen mit Lorinser lässt Optionen für die Zukunft offen.
Bitteres Blut ist kein Wald- und Wiesenkrimi, der ausschweifend mit Lokalkolorit hantiert, um das Interesse der regionalen Leserschaft zu wecken. Hier wird ein wacher Blick auf die deutsche Binnenlandschaft geworfen, in der Geschichtsklitterung sowohl privat wie öffentlich betrieben wird. In der Irrationales so rational erscheinen kann, dass es fast wie Zwangsläufigkeit wirkt. Vieles wird angerissen – wie die Geschichte von Lorinsers misshandelter Schwester Katta -, ohne das es eine klare und einfache Lösung gibt. Voss´ Welt ist keine hermetische, in der akribische und loyale Ermittler für einen Sieg der Gerechtigkeit sorgen, allzu oft lauern Fallstricke und –türen dort, wo man sie gar nicht erwartet. Menschen reden, manchmal viel und mitunter – zu – wenig. Doch das, was wichtig ist, findet sich meist zwischen den Worten. Und sei es in mörderischen Taten."
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen