13.12.2025

 

 

 Nur der Führer?

Die Halbstarkenproblematik der 1950er Jahre: 

Rebellion im Schatten der Vergangenheit


Nach 1945 stand Deutschland – besonders die jungen Menschen – vor einer neu zu definierenden Ordnung. Während der physische Wiederaufbau in vielen Städten mit unglaublichem Einsatz vorangetrieben wurde, blieben ideologische und strukturelle Wunden in der Gesellschaft, die sich unmittelbar in den Lebenswelten der Jugend manifestierten. Die Erfahrungen von Hunger, Armut und dem Verlust traditioneller Werte führten zu einem tiefen Gefühl der Orientierungslosigkeit. Gleichzeitig kämpfte die junge Generation mit dem Umstand, dass nicht alle Verstrickungen der nationalsozialistischen Ära vollständig beseitigt waren. Gerade die Tatsache, dass nach Kriegsende bedeutende gesellschaftliche Funktionen weiterhin – oft unauffällig, aber dennoch wirkmächtig – von ehemaligen NS-Funktionären besetzt wurden, trug dazu bei, dass das Erbe des Nationalsozialismus in der neuen Ordnung prägenden Einfluss behielt.

In den frühen Nachkriegsjahren galt der offizielle Anspruch, Deutschland von der NS-Ideologie zu säubern. Dennoch ergaben sich in der Praxis gravierende Lücken: Während die Alliierten zunächst eine umfassende Entnazifizierung forderten, erwies sich der Umbruch in einem Land, das vor einem enormen infrastrukturellen und personellen Wiederaufbau stand, als unvollständig. Viele Fachleute, Manager, Juristen und Beamte, die während der nationalsozialistischen Herrschaft geherrscht hatten, gelang es, über den juristischen und politischen Schlamassel hinweg ihre Karrieren fortzusetzen. Aus der Perspektive der jungen Generation, die in einer Ära der Erneuerung und des aufkeimenden Wirtschaftswunders begriffen sein sollte, war dies ein schwer zu tragender Widerspruch: Einerseits wurde das Bild eines modernen, demokratischen Deutschlands propagiert, andererseits blieb der Einfluss alter und autoritärer Strukturen spürbar.

Diese Doppelnatur führte bei vielen Jugendlichen zu einem Zustand tiefer Frustration und Identitätskrise. Bereits vor dem Krieg war der Begriff der „Halbstarken“ – abwertend gebraucht für ungehorsame, rebellische junge Männer aus den Arbeiterklassen – in Gebrauch. In den 1950er Jahren erfuhr dieser Begriff eine Renaissance, welche seine ursprüngliche Bedeutung bei Weitem überstieg: Er avancierte zum Sinnbild für eine Jugendkultur, die sich durch Provokationen, offenkundige Ablehnung der Ordnung und den bewussten Bruch mit tradierten Werten auszeichnete. Die Halbstarken, in Lederjacken, Jeans und mit pomadisierten Frisuren – stilistische Elemente, die sich an den Darstellungen amerikanischer Filmidole wie James Dean orientierten – opponierten gegen das Establishment. Ihre aufmüpfige Haltung war nicht nur Ausdruck ihrer Übermüdung nach jahrelanger Kriegsmüdigkeit, sondern auch eine direkte Reaktion auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit, in der der Wiederaufbau zwar sichtbar, aber von autoritären und althergebrachten Machtstrukturen geprägt war.

Ein zentraler Aspekt der Halbstarkenproblematik war das als gewaltbereit empfundene Verhalten dieser Jugendkultur. Öffentliche Auseinandersetzungen, Randale bei Rock-’n’-Roll-Konzerten und street-level Provokationen lehnten sich gegen die Normen einer Gesellschaft auf, die selbst durch die Wunden der Vergangenheit gezeichnet war. In den Medien der damaligen Zeit wurden diese Auseinandersetzungen zum Gegenstand intensiver Diskussionen. Politiker, Pädagogen und Soziologen debattierten über die Ursachen des abweichenden Verhaltens und sahen darin den Bruch zwischen einer modernen, demokratisch orientierten Gesellschaft und einem fortbestehenden autoritären Erbe, das in vielen staatlichen Institutionen weiterlebte.

Die junge Generation empfand es als doppelt ungerecht: Zum einen wurde ihnen eine Zukunft in einem Land verheißen, das sich gerade erst von den Trümmern befreien wollte, während sie gleichzeitig unter dem Schatten alter Machtstrukturen stand. Zum anderen bedeutete der sichtbare Fortbestand von ehemaligen NS-Funktionären in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen, dass ein wesentlicher Teil der Vergangenheit nicht offen aufgearbeitet wurde, sondern stillschweigend weiterlebte. Diese Kluft zwischen den erklärten Idealen des Neuanfangs und der Realität trug dazu bei, dass sich viele Jugendliche als Außenseiter und Rebellen fühlten. Für sie stellte der Lebensstil der Halbstarken nicht nur eine Modeerscheinung dar, sondern einen existenziellen Versuch, sich gegen ein System aufzulehnen, das nicht in der Lage war, die Narben des Krieges zu heilen.

Zahlreiche Studien und zeitgenössische Darstellungen zeigen, dass die Debatten um den Begriff und die Erscheinungsweise der Halbstarken eng mit den gesellschaftlichen Transformationsprozessen der Nachkriegszeit verknüpft waren. Neben der offensichtlichen Rebellion spielten dabei auch kontrastierende Einflüsse eine Rolle: Als Symbol der neuen weltlichen Freiheit standen sie exemplarisch für den Aufbruch in den Rock ’n’ Roll und eine veränderte Popkultur, die internationale Trends aufgriff. Gleichzeitig aber rief ihre aggressive und oft normverletzende Haltung ebenso alte, konservative Kräfte auf den Plan, die sich in einer Gesellschaft, die immer noch von traditionell autoritären Strukturen beherrscht wurde, in ihrer Stellung bedroht fühlten.

Die Halbstarkenproblematik war ein vielschichtiges Phänomen. Nicht nur Ausdruck jugendlicher Übermüdung oder ungestümen Strebens nach Individualität, sondern auch der bitteren Enttäuschung über einen Wiederaufbau, der trotz aller Versuche eines Neuanfangs von den Geistern der Vergangenheit überschattet wurde. Die Tatsache, dass ehemalige  Nationalsozialisten in den gesellschaftlichen Funktionen fortwirkten, trug dazu bei, dass die junge Generation das etablierte System als nicht grundlegend reformierbar empfand. Die Halbstarken wurden damit – bewusst oder unbewusst – zu einem Sinnbild des Widerstands gegen eine Macht, die sich zu wenig von ihrer belasteten Geschichte distanzieren konnte.


Die Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte zeigt deutlich, wie eng Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwoben sind. Die Halbstarkenproblematik erinnert uns daran, dass ein echter gesellschaftlicher Neuanfang nicht allein über bauliche Veränderungen und wirtschaftlichen Aufschwung erfolgt, sondern vor allem über die kritische Reflexion verpasster historischer Aufarbeitungsprozesse. Gerade in Zeiten, in denen alte Eliten und Machtstrukturen noch immer nachwirken, ist es unerlässlich, dass demokratische Gesellschaften stets bereit sind, die Konsequenzen unvollständiger Vergangenheitsbewältigung sichtbar zu machen und neue Wege der Integration und legitimen Mitbestimmung zu fördern.

Heute, beim Rückblick auf diese dynamische und konfliktreiche Zeit, wird deutlich, wie wichtig es ist, historische Übergänge in ihrer ganzen Komplexität zu verstehen. Die rebellische Haltung der Halbstarken mag auf den ersten Blick als ausschweifende Jugendkultur abgetan werden, doch sie öffnet ein Fenster in die tiefen gesellschaftlichen Widersprüche der Nachkriegszeit. Sie zeigt, dass das unvollständige Aufarbeiten der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht nur den Wiederaufbau politischer und gesellschaftlicher Institutionen beeinträchtigte, sondern auch nachhaltig das Selbstverständnis und die Identität einer ganzen Generation prägte – eine Generation, die sich gezwungen sah, in einem alten Korsett zu leben, während sie selbst den Drang verspürte, etwas grundlegend Neues zu wagen.

In diesem Licht erscheint die Halbstarkenproblematik nicht als eine isolierte Modeerscheinung, sondern als ein Symptom eines breiten, historischen Umbruchs. Es spricht Vieles dafür, dass die 68er-Bewegung durchaus Wurzeln im Aktionismus der Halbstarken zu hat. Wie auch immer, es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie eng politische Strukturen, historische Aufarbeitung und kulturelle Selbstfindung miteinander verknüpft sind – Fragen, die auch heute noch in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen hochaktuell bleiben.

28.11.2025

 

 

Die verlorene Generation: 

Jugend in der Nachkriegszeit – Krise und Neubeginn


Ich gehöre zu der Generation, die noch im Dritten Reich, also zum Ende des 2. Weltkriegs geboren wurde. Zwar habe ich den Kriegslärm und die Not miterlebt. Aber als Kind ist das Verständnis für die Bedingungen, Umstände und Situationen eingeschränkt. Ich hatte sozusagen Watte in den Ohren und sonstigen Sinnesorganen. Aber geprägt bin ich von dieser und besonders der Nachkriegszeit und den 50er Jahren. Obwohl jung, fühlte ich mich als „Halbstarker. So nannten die Autoritäten den „Abschaum“, der es wagte, gegen Tschakos und Gummiknüppel (zusammen mit den Gehirnen alles noch Relikte aus dem Tausendjährigen Reich) rotzig zu werden oder – im heutigen Sprachgebrauch – zu rebellieren.

Der Text ist recht umfangreich. Deshalb teile ich ihn in mehrere Kapitel, die nach und nach präsentiert werden.


1

Nach 1945 war die deutsche Gesellschaft nicht nur durch die sichtbaren Ruinen der Städte, sondern vor allem durch unsichtbare Narben geprägt, die ein Leben lang andauern sollten. Besonders betroffen war die jüngere Generation, die in ihrer Kindheit und Jugend unmittelbar unter den Folgen des Krieges litt. Diese Zeit des Umbruchs war geprägt von Hunger, Mittellosigkeit und einer tiefgreifenden Orientierungslosigkeit, die den Weg in die sogenannte „neue Zeit“ erschwerte. Junge Menschen, die teilweise selbst miterlebten, wie der Krieg sie körperlich und seelisch erschöpfte, fanden plötzlich in einer Gesellschaft wieder, die sich selbst neu ordnen musste. Es war eine Ära, in der der Wiederaufbau nicht allein aus Ziegeln und Beton bestand, sondern vor allem aus der schwierigen Aufgabe, den Lebenswillen und den Glauben an eine bessere Zukunft in den Herzen der Jugend wiederzubeleben.

Die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinterließ in Deutschland ein Bild der Zerstörung, das sich in den Alltag der Menschen einprägte. In den Trümmern der Großstädte, den zerbombten Landschaften und den ausgebrannten Feldern spiegelte sich der Schmerz einer Nation wider, die alles verloren hatte. Für die Kinder und Jugendlichen, die in diesen Jahren aufwuchsen, war die physische Zerstörung zugleich Symbol einer inneren Leere. Der Mangel an Nahrung, die penible Not und das Fehlen elterlicher Geborgenheit formten einen Alltag, in dem das elementare Gefühl von Sicherheit auf der Strecke blieb. Viele junge Menschen sahen sich plötzlich mit der Aufgabe konfrontiert, in einem Umfeld ohne Vorbilder auseinanderzusetzen, und die fehlende Struktur der Gesellschaft führte zu einer tiefen Verunsicherung und einem nahezu existenziellen Identitätskonflikt.

In dieser Krisenzeit bedeutete das Erleben von Hunger und Mittellosigkeit nicht nur ein Überleben im physikalischen Sinne, sondern auch den Verlust traditioneller Lebensentwürfe und sozialer Bindungen. Die Ausbildung der Persönlichkeit wurde von äußeren Bedingungen diktiert, sodass viele Jugendliche in einem unvorstellbaren Kontext aufwuchsen, in dem gegen den sozialen Abbau angekämpft werden musste. Der Verlust von Orientierung führte häufig dazu, dass junge Menschen sich nicht mehr sicher waren, welche Werte und Normen weiterhin Bestand haben konnten. Es fehlte an stabilisierenden Institutionen, und gleichzeitig zeichnete sich ein Klima akuter Verunsicherung ab, was letztlich in einer Reihe von destruktiven Verhaltensweisen resultierte.

Nicht selten hatte der Krieg selbst, der viele junge Menschen in direkte Kampfhandlungen einbezogen hatte, Spuren hinterlassen, die auch Jahre nach Kriegsende nicht verheilt waren. Der physische und psychische Tribut, den das Kämpfen forderte, manifestierte sich in Erschöpfung, Traumata und einer tiefen Desillusionierung gegenüber allem, was zuvor als zukunftsweisend galt. Die jungen Überlebenden, die sich tagtäglich mit dem Verlust von Familie, Heimat und Sicherheit auseinandersetzen mussten, verfielen oft in einen Zustand existenzieller Orientierungslosigkeit. Junge Menschen, die sich inmitten eines Systems wiederfanden, das sie nicht länger verstand oder in der Lage war, ihnen klare Perspektiven zu bieten, sahen sich häufig gezwungen, eigene, oft riskante Wege zu gehen, um auszubrechen. Der Übergang in die Nachkriegszeit bedeutete somit nicht einfach einen Neubeginn – es war auch eine schwierige Auseinandersetzung mit den Schatten der Vergangenheit.

Das gesellschaftliche Vakuum in der unmittelbaren Nachkriegszeit eröffnete zudem Räume, in denen sich abweichende Lebensentwürfe verbreiten konnten. So wurden viele Jugendliche, die sich von der traditionellen Ordnung verraten fühlten, anfällig für kriminelle Verhaltensmuster und Gruppendynamiken, die den Weg in extremistische oder fremdenlegionäre Strukturen ebneten. Es war nicht selten, dass junge Menschen nach dem Verlust eines verlässlichen sozialen Rückhalts in der Versuchung standen, in Gemeinschaften aufgenommen zu werden, die ihnen zumindest kurzfristig ein Gefühl von Zugehörigkeit und Struktur versprachen. Diese Bewegungen gaben den oftmals verlorenen jungen Menschen einen neuen, wenn auch gefährlichen Weg, ihre Ungewissheit zu kanalisieren. Solche Gruppierungen boten eine vermeintliche Sicherheit, die in der neuen, chaotischen Ordnung ihres Lebens dringend benötigt wurde – Sicherheit, die aber letztlich häufig in weiterer Entfremdung und kriminalitätsgeprägten Lebensweisen endete.

Fortsetzung folgt 

06.11.2025

 

 

 

 

FASCHIST

Die Universalfernbedienung der Empörung



Es gibt Wörter, die nicht argumentieren, sondern detonieren. „Faschist“ ist so eins. Man wirft es in die Runde, und schon knicken Stühle ein, Gesprächspartner ebenfalls. Praktisch. Nur dumm, dass das Wort, bevor es zum Allzwecketikett geriet, einmal etwas sehr Konkretes meinte: Mussolinis italienisches Projekt, die fasci di combattimento, den Marsch auf Rom, den Kult des Staates, den korporativen Zwangsanzug für eine Nation, die man als Körper verstand. Der Ursprung liegt in Italien, nicht in Deutschland. Doch im deutschen Diskurs wurde „Faschist“ zur Sammelklatsche für alles Rechte, Autoritäre, Unangenehme – und vor allem zum bequemen Ersatz für „Nationalsozialist“.

Das hat Gründe, einige harmlos, andere weniger. Die Sowjetunion prägte früh eine Sprachregel: „Faschismus“ galt als Sammelbegriff für den feindlichen Block – Nazis, Rechtsdiktaturen, bürgerliche Reaktion gleich mit. „Antifaschistisch“ war man selbst, und wer wollte schon dagegen sein. Diese Semantik wanderte in die Nachkriegsrhetorik, durch die DDR bis in westdeutsche Milieus, in denen „faschistisch“ irgendwann das sagte, was man gerade brauchte: böse, reaktionär, kapitalistisch, brutal. Das Ergebnis kennen wir: Der italienische Ursprung verblasst, der deutsche Nationalsozialismus saugt das Etikett auf, und das Wort wird zur moralischen Sirene – laut, anhaltend, aber ohne Richtungssinn.

Nun ist es verführerisch, beide Phänomene in einen Topf zu werfen; die Uniformen funkeln ähnlich, der Führerkult passt in beide Kulissen, Fackellichter sehen immer gleich aus. Aber wer die Oberfläche betrachtet, verwechselt Kino mit Geschichte. Der italienische Faschismus betete den Staat an. Er träumte von organischer Einheit, vom Eingriff in die Wirtschaft per Korporationen, vom großen, straff geführten Ganzen, das den Einzelnen in Stände einsortiert und ihm den Stolz gibt, Zahnrad zu sein. Er konnte – man verzeihe die Nüchternheit – Kompromisse schließen: mit der Kirche (Lateranverträge), mit der Monarchie, mit den Besitzständen, solange sie salutierten. Er war brutal, kolonial, verrohend, aber sein Zentrum war nicht der industrielle Mord. Der Antisemitismus kam spät, opportunistisch, 1938 als Rassengesetze: hässlich, gewalttätig, doch ohne die totalisierende Vernichtungsphilosophie als Staatsprogramm.

Der deutsche Nationalsozialismus betete nicht den Staat an, sondern Blut und Rasse. Hier war der Staat nur Gefäß, Waffe, Bühne. Der Kern war der eliminatorische Antisemitismus, die Idee vom „Volkskörper“, der angeblich gereinigt werden müsse, notfalls mit Zyklon B und Fahrplan. Der Krieg war kein Unglück der Politik, sondern ihr Zweck. Die Ökonomie wurde zum Raubzug, zur Rüstung, zur Versklavung. Die Kirchen wurden geduldet, umfunktioniert, unterhöhlt; eine Monarchie gab es nicht, nur den Führerkult. Während Mussolinis System taumelte, taktierte, stürzte und sich 1943 relativ leicht demontieren ließ, radikalisierte sich der Nationalsozialismus bis zum industriellen Massenmord, präzise, pedantisch, deutsch.

Wer also „Faschismus“ sagt und den Nationalsozialismus meint, verpasst den entscheidenden Punkt. Man könnte genauso gut beide als „Diktatur“ bezeichnen und sich danach wundern, warum gegen die eine andere Waffen taugen als gegen die andere. Therapie folgt Diagnose – wer alles gleich nennt, behandelt falsch. Der eine vergöttlicht den Staat und zwingt ihn der Gesellschaft als eiserne Form auf; der andere vergöttlicht die „Rasse“ und baut aus Menschen Material. Dieser Unterschied ist keine Fußnote, er entscheidet darüber, wie und warum die Maschine tötet.

Warum hält sich die Verwechslung trotzdem so hartnäckig? Weil sie bequem ist. Ein einziges böse Wort genügt, und der Gegner ist erledigt. „Faschist“ erspart Belege, spart Denken, signalisiert Haltung. Lehrbücher profitieren auch: Ein Schimpfwort erklärt die Welt schneller als eine Analyse, die die Nerven ruiniert. Hinzu kommt der psychologische Komfort: „Faschismus“ klingt italienisch und damit angenehm fremd. „Nationalsozialismus“ ist deutsch und scheußlich vertraut. Wer ersteres sagt, hält die eigene Verantwortung in hygienischer Distanz. Und schließlich die Gegenwart: Wir lieben Gummibegriffe, die sich dehnen lassen, bis sie alles bedecken. Autoritäres Gehabe? Faschistoid! Missliebige Politik? Faschistisch! So einfach wird man mit der Universalfernbedienung vom Sofa aus Weltretter.

Ist das bloß fahrlässig oder schon Absicht? Beides. Wer es nicht besser weiß, verwechselt in gutem Glauben. Unwissenheit lässt sich heilen. Schlimmer ist die absichtliche Nebelmaschine: die strategische Aufladung eines Gummibegriffs, der den Gegner moralisch ruiniert, bevor Argumente den Raum betreten; die Relativierung des spezifisch Nationalsozialistischen, vor allem der Shoah, indem man alles in eine Brühe rührt; die bequeme Mobilisierung durch Empörung, die das Publikum wärmt und den Kopf kühlt. Wer die Präzision meidet, handelt selten aus Zufall. Unschärfe ist Politik – nicht Methodik.

Man kann natürlich erwidern, es zähle doch das Gemeinsame: autoritär, freiheitsfeindlich, gewaltbereit – geschenkt. Aber gerade wer künftig autoritäre Bewegungen rechtzeitig erkennen und entwaffnen will, muss wissen, worauf er schaut. Ein Staat, der alles korporativ verorganisiert, braucht andere Gegenmittel als ein System, das den Nachbarn zum „Rassefeind“ erklärt. Gegen den ersten hilft die Verteidigung von Pluralität und sozialer Autonomie, gegen den zweiten die kompromisslose Namensnennung des Rassismus, die Abschirmung von Minderheiten, die konsequente Strafverfolgung der Entmenschlichung. Wer überall dieselbe Sirene heulen lässt, übertönt die Unterschiede – und riskiert die falschen Einsätze.

Es spricht also nichts dagegen, Mussolinis Faschismus „faschistisch“ zu nennen; es spricht alles dafür, Hitlers Herrschaft beim Namen zu nennen: nationalsozialistisch. Und wenn es um die Phänomene unserer Gegenwart geht, lohnt sich die Mühe der Worte: autoritär, illiberal, völkisch, rassistisch, verschwörungsgläubig. Begriffe sind Werkzeuge, keine Totschläger. Wer mit dem Vorschlaghammer alles „Faschismus“ nennt, ist erstaunlich schnell fertig – und hat erstaunlich wenig repariert.

Die Pointe ist bitter und einfach: Je genauer die Sprache, desto geringer die Verführung. Die Opfer der Geschichte haben Anspruch auf diese Genauigkeit, und die Lebenden brauchen sie, um zu begreifen, was ihnen droht. „Faschist“ als Allzweckfluch wärmt die moralische Selbstzufriedenheit – und kühlt die Erkenntnis. Wer wirklich aufklären will, unterscheidet. Wer unterscheidet, entwaffnet. Wer nicht unterscheidet, bewaffnet am Ende die Falschen. Und,- ehrlich? – ist der Faschismusbegriff nur deshalb noch nicht in die Kritik geraten, weil sich damit auch unlautere Vorteile ergattern lassen?

06.10.2025


 

Gibt es Antideutschismus?

 Natürlich nicht.

 Wir sind schließlich Weltmeister im Differenzieren. Wir zählen Mikrobeleidigungen mit Pipette, führen neue Kompositawörter ein und veranstalten Ethik-Triathlons. Doch „Diskriminierung wegen deutscher Herkunft“? Das klingt nach kaputter Vitrine im Museum für Unzeitgemäßes. Bitte weitergehen.

Dabei ist die Sache simpel. Antisemitismus: verwerflich. Antiislamismus: verwerflich. Rassismus: verwerflich. Nationalitäten-Bashing: ebenso. Nur im Alltag läuft es anders. Da gibt es die feine Unterscheidung zwischen „strukturell“ (ernst) und „na ja, stell dich nicht so an“ (locker). Der Satz „Die Deutschen sind nun mal so“ gilt als launige Wettervorhersage. Wenn man „die Deutschen“ sagt, ist niemand konkret gemeint. Praktisch, denn so trifft es alle und niemanden. Es ist die demokratischste Form der Pauschalität.

Ein kleiner Feldversuch:
„Ihr Deutschen seid humorlos.“ – „Danke, wir lachen später.“
„In X-Stadt mögen sie keine Deutschen.“ – „Kein Problem, wir mögen uns selbst gelegentlich auch nicht.“
„Deutsche Touristen benehmen sich schlimm.“ – „Richtig, daher reisen wir so viel. Training.“

„Hey, Kartoffel, du weißt, dass du schnell faulst?" 

Ironie beiseite: Diskriminierung ist kein Wettbewerb um höhere Leiden. Wer Menschen auf ihr Merkmal reduziert – Glaube, Herkunft, Pass – betreibt dieselbe geistige Schrumpfkur. Der Mechanismus ist immer gleich: Komplexität runterdimmen, Schuld kollektivieren, Verantwortung auslagern. Antideutschismus ist nicht die große, finstere Ideologie mit Manifest und Marschmusik. Er funktioniert im Leichten, im Achselzucken, im „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“. Er ist das sozial akzeptierte Restlachen nach der eigentlichen Pointe.

Warum stört das so wenig? Weil die Norm nicht als schützenswert gilt. Mehrheit = Pufferzone. Wer zur Mehrheit gehört, muss „einstecken können“. Klingt robust. Führt aber in die bequeme Blindheit: Wenn man die kleine Kränkung für normal hält, übersieht man die große. Und aus Gewohnheit wird Haltung.

Was tun? Drei kleine Regeln ohne moralischen Orkan:

  1. Gleiche Maßstäbe, bitte. Wenn „die Muslime“, „die Juden“, „die Franzosen“ tabu sind, dann sind „die Deutschen“ nicht Freiwild. und auch keine Kartoffeln! Keine Pauschale, nirgends.

  2. Konkret statt kollektiv. „Dein Verhalten nervt“ ist präzise. „Ihr Deutschen …“ ist faul.

  3. Humor mit Rückgaberecht. Witze sind erlaubt, Rückfragen auch: „Wen genau meinst du?“ Meist reicht dieser Satz, um das Nebelwort „ihr“ zu entzaubern.

Bleibt ein Rest: das Bedürfnis, sich überlegen zu fühlen. Nichts veredelt schneller als ein Feindbild mit Gruppentarif. Aber echte Souveränität beginnt dort, wo man auf diese billige Erhabenheit verzichtet. Wer andere nicht auf Herkunft reduziert, gewinnt Freiheit: die Freiheit, jemanden tatsächlich zu sehen.

Also ja: Antideutschismus existiert – als gesellschaftliche Schludrigkeit, als salonfähige Generalisierung, als scheinbar harmlose Pointe. Harmlos ist sie nicht. Sie verdirbt den Geschmack. Und wer gutes Brot backt, weiß: Schon ein wenig Bitteres macht den ganzen Teig unbrauchbar. Besser, wir lassen’s. Für alle. Überall. Ohne Ausnahme.

Eine deutsche Kartoffel? (Kommt die ursprünglich nicht aus den Anden?)<script async src="https://pagead2.googlesyndication.com/pagead/js/adsbygoogle.js?client=ca-pub-4816985245880628"
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01.10.2025


Verführung durch Glauben – und Ideologie

Warum Wahrheitsmonopole Gewalt erzeugen

Ob sakral oder säkular: Wo eine Lehre die Wahrheit für sich beansprucht, werden aus Andersdenkenden Gegner. Geschichte und Gegenwart zeigen das Muster. Die offene Frage: Was heißt dann „Glaubensfreiheit“ – Schutzschirm für alle Ansprüche oder gezielte Sicherung für Minderheiten?

Menschen hassen Ungewissheit. Unser Kopf sucht Ursachen, oft Personen hinter Ereignissen. Aus diesem Reflex entstehen Erzählungen, aus Erzählungen Rituale, aus Ritualen Religionen. Das stiftet Sinn. Es bindet Gruppen. Es ordnet die Welt in „heilig“ und „profan“. Problematisch wird es, wenn diese Ordnung zum Wahrheitsmonopol verhärtet.

Wenn Gewissheit zur Waffe wird

Religiöse Konflikte sind fast nie „rein religiös“. Macht, Territorium, Ökonomie mischen mit. Aber die Dogmatik liefert die moralische Lizenz. Die Kreuzzugsformel „Gott will es“; die Bartholomäusnacht; der Dreißigjährige Krieg; millenaristische Aufstände wie die Taiping-Rebellion; die Pogrome der Indien-Partition – überall derselbe Griff: Heilsgewissheit legitimiert Gewalt.

Zwischenfazit: Religion kann trösten und Gemeinsinn organisieren. Gefährlich wird sie, wo sie Abweichung nicht erträgt.

Ideologien: dieselbe Mechanik ohne Gott

Totalitäre Ideologien kopieren das Muster, nur ohne Transzendenz. Der Nationalsozialismus als Heilslehre um „Volk“ und „Führer“. Der Leninismus mit der angeblich „wissenschaftlichen“ Avantgardepartei. Heute der Populismus, meist rechts, gelegentlich links, mit dem Satz: „Nur wir vertreten das wahre Volk.“ Der Kern ist identisch: Wahrheitsmonopol → Feindmarkierung → Herrschaft.

Das Funktionsschema

  1. Sinnversprechen in der Krise.

  2. Wahrheitsanspruch („Gott/Idee/Volk spricht durch uns“).

  3. Delegitimation der Abweichung (Ketzer, Lügner, „Volksfeinde“).

  4. Zwangsrechtfertigung als moralische Pflicht.

  5. Immunisierung gegen Kritik.

Wer dieses Schema einmal verstanden hat, erkennt es wieder – in Kanzelreden, Parteitagen, Telegram-Kanälen.

Die politische Antwort

  • Offene Gesellschaft verteidigen: Kritik ermöglichen, Fakten prüfen, Macht begrenzen.

  • Pluralität lehren: Herkunft von Glauben und Ideologie erklären, statt Heilsversprechen zu romantisieren.

  • Institutionelle Demut einüben: Keine Organisation – Kirche, Partei, Bewegung – ist über Widerspruch erhaben.

Glaubensfreiheit – absolut oder gezielt?

Hier wird es heikel. „Glaubensfreiheit“ gilt als unantastbar. Zu Recht – als Abwehrrecht gegen staatliche Bevormundung. Aber die Praxis hat einen blinden Fleck: Wenn jede noch so wahrheitsversessene Lehre gleichermaßen sakrosankt behandelt wird, trainieren wir Unantastbarkeit auch dort ein, wo die Lehre anderen die Freiheit abspricht.

Frage 1: Ist eine absolute Glaubensfreiheit sinnvoll, die jeglichen Wahrheitsabsolutismus unter denselben Schutz stellt – auch dann, wenn er offen anti-pluralistisch auftritt?

Frage 2: Oder verstehen wir Glaubensfreiheit präziser: als Instrument zum Schutz von Personen und kleinen Gemeinschaften, damit sie ungestört glauben, feiern, zweifeln können – solange ihre Praxis die gleichen Freiheits- und Gleichheitsrechte anderer nicht verletzt?

Diese Präzisierung wäre kein Angriff auf die Religion. Sie wäre eine Rückbesinnung auf den liberalen Kern: Der Staat schützt Menschen in ihrer Überzeugung – nicht Überzeugungen vor Kritik. Wer mit einem Wahrheitsmonopol in die Öffentlichkeit tritt und daraus Herrschaft oder Sonderrechte ableitet, muss sich Widerspruch, Satire, Gegenrede gefallen lassen. Und wenn aus Lehre Zwang wird – ob sakral oder säkular –, endet der Schutz. Dort beginnen die Grenzen einer freiheitlichen Ordnung.

Glaube entsteht aus Sinnsuche, Ideologie aus dem Wunsch nach Deutungshoheit. Gefährlich werden beide, wenn sie unfehlbar auftreten. Eine klügere Lesart der Glaubensfreiheit schützt die Schwachen, nicht die Unfehlbaren. Sie schützt die Freiheit zu glauben – und die Freiheit, nein zu sagen. Genau darin liegt der Unterschied zwischen Trost und Zwang, zwischen Gemeinschaft und Gewalt.

 

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28.09.2025

 Generiertes Bild

 

 

 

 

 

 

Der Experte – Schutzpatron des Unwissens

Wenn Politiker nicht mehr weiterwissen, rufen sie den „Beraterkreis“. Dort sitzen dann Menschen mit grauen Schläfen und ernsten Gesichtern, die Papiere wälzen, Statistiken zitieren und am Ende eine Empfehlung abgeben, die genauso unverbindlich ist wie das Wetter im April. Das Schöne daran: Der Politiker hat sein Alibi. „Ich habe die Experten gefragt.“ Wenn’s schiefgeht, war’s nicht er.

Ein genialer Trick – und die Medien haben ihn übernommen.

Experten als Lückenfüller

Man könnte glauben, die journalistische Grundaufgabe sei es, Informationen zu recherchieren. Inzwischen reicht es aber offenbar, eine Studiotür aufzumachen und den Nächstbesten hereinzuwinken. Titel? Am besten Professor. Fachgebiet? Nebensache. Hauptsache, man kann ihn in den Bauchbinden als „Experte“ ankündigen.

So sitzt der Politologe am Montag im Studio, erklärt die Ukrainefront, am Dienstag die Inflation, am Mittwoch das Klima. Universalgelehrte, wie man sie seit Leonardo da Vinci nicht mehr gesehen hat.

Der Unterschied: Leonardo war ein Universalgenie.

Klassiker des Irrtums (Magere Auswahl)

  • 2008, Finanzkrise: „Alles halb so wild, Europa bleibt verschont.“ Zwei Wochen später war Lehman pleite und die halbe Bankenwelt gleich mit.

  • 2020, Corona: „Masken bringen nichts.“ – „Masken sind unverzichtbar.“ – „Masken nur draußen.“ – „Masken nur drinnen.“ Der Bürger lernte vor allem eines: Man kann gleichzeitig recht haben und unrecht.

  • 2022, Ukraine: „Russland nimmt Kiew in drei Tagen.“ Tatsächlich zogen sich die russischen Panzer nach Wochen zurück, teilweise zu Fuß.

Und trotzdem sitzen dieselben Gesichter heute wieder vor Kameras und erklären, warum sie damals natürlich recht hatten, nur „im falschen Kontext“.

Der Zuschauer als Versuchskaninchen

Der Zuschauer darf derweil staunen, wie elegant Meinungen als Nachrichten verkauft werden. „Die Meldung konnte nicht bestätigt werden“, heißt es, aber keine Sorge: Der Experte hat ja eine Meinung! Und eine Meinung ersetzt bekanntlich jede Recherche.

Früher war die Zeitung voller Fakten. Heute ist das Studio voller Experten.

Satirische Zwischenfrage

Was kommt als Nächstes? Der Wetterexperte, der uns nach einem Blick in den Himmel versichert: „Es könnte regnen, aber auch nicht.“ Oder der Kaffee-Experte, der im Morgenmagazin erklärt, dass Bohnen grundsätzlich braun sind, aber auch mal schwarz wirken können.

Seriös verpackt, versteht sich.

Die Alternative: Mut zum Nichtwissen

Man könnte es so einfach haben: Journalisten sagen, was sie wissen. Und was nicht. Drei Spalten würden genügen:

  1. Gesichert.

  2. Unklar.

  3. Noch offen.

Das wäre ehrlicher als jedes „Expertenpanel“ und würde den Bürger nicht wie ein unmündiges Kind behandeln.

Denn die wahre Nachricht ist manchmal nicht das, was man weiß – sondern das, was man bislang nicht weiß.

23.09.2025

 

 

 Nörgeln statt Nachdenken – das deutsche Spezialtalent

Es gibt Länder, in denen Menschen Probleme praktisch und solidarisch lösen. Spanien zum Beispiel. Dort regt man sich weniger über „die da oben“ auf, sondern hilft einander – mit Händen und Füßen, nicht mit endlosen Klagen. Politik ist dort Hintergrundmusik, nicht das Hauptthema am Tisch.

In Deutschland dagegen gehört das Nörgeln zur Grundausstattung. Kaum ein Gespräch, in dem nicht die angebliche Unfähigkeit der Regierung beklagt wird. Auf Nachfrage, wie man es selbst besser machen würde, herrscht meist beredtes Schweigen. Oder es folgt eine empörte Floskel, die alles erklärt und nichts löst.

Besonders anschaulich wird diese Haltung im Ukrainekrieg. Die Ursache – dass Russland unter Putin völkerrechtswidrig ein Nachbarland überfallen hat – verschwindet im Nebel. Stattdessen heißt es: „Die Ukraine wird gemästet, mit Waffen, Geld, Sozialhilfe. „Alles auf unsere Kosten.“ Und die Lösung klingt simpel: Wenn wir die Unterstützung einstellen, ist sofort Frieden.

Das ist in seiner Logik ebenso bestechend wie der Ratschlag, bei Regen einfach nicht nass zu werden. Der eigentliche Gedanke dahinter: Wenn wir nichts tun, müssen wir uns auch nicht aufregen. Dass ein Aggressor damit belohnt wird und womöglich weitergreift, wird ausgeblendet.

Es ist eine erstaunlich egozentrische Sichtweise. Das Leid der Ukrainer zählt weniger als der eigene Strompreis. Freiheit und Sicherheit wirken abstrakt, solange sie nicht unmittelbar gefährdet sind. Hauptsache, das Abendbier bleibt bezahlbar.

Ironisch betrachtet, ist diese Haltung sogar „praktisch“. Praktisch für all jene, die Veränderung scheuen. Praktisch für Putin, der in Deutschland mehr Verständnis findet, als ihm gebührt. Praktisch auch für diejenigen, die den Westen schwächen wollen.

Übersehen wird dabei: Solidarität ist kein moralischer Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Wer andere im Stich lässt, verliert am Ende selbst jede Unterstützung. Wer glaubt, Frieden sei durch Wegsehen zu erreichen, wird überrascht sein, wenn der Krieg an die eigene Tür klopft.

Vielleicht würde Deutschland gut daran tun, ein wenig spanische Gelassenheit zu übernehmen – nicht als Gleichgültigkeit, sondern als Pragmatismus. Weniger Jammern, mehr Handeln. Weniger Feindseligkeit, mehr Zusammenhalt. Denn Solidarität schützt nicht nur die anderen, sondern auch uns selbst.

19.09.2025

 

 

Nazikeule, Schablone, Dauerfeuer 

– oder wie man Kritik in Deutschland entsorgt

Deutschland, das Land der Regeln, hat sich eine besonders raffinierte Methode ausgedacht, Debatten abzukürzen: die Schablone. Wer inhaltlich nicht weiterweiß, greift zur Nazikeule, setzt den Stempel „Antisemitismus“ oder „rechts“ und schon ist der Kritiker erledigt. Eine wunderbar einfache Technik: ökonomisch, effizient, emotionsgeladen – und für jede Talkshow geeignet.

Das Problem: Die Schablone arbeitet mit Generalverdacht. Wer Kritik an Israels Vorgehen in Gaza übt, landet nicht selten in der Antisemitismus-Schublade. Wer gegen überbordende Bürokratie wettert, steht mit einem Bein bei den „Reichsbürgern“. Wer Gendersprache infrage stellt, muss angeblich schon AfD-Flyer im Keller lagern. So wird aus einer pluralistischen Demokratie ein Diskurs-Sandkasten, in dem jeder jedem mit Förmchen eins überzieht.

Dabei ist die Doppelmoral nicht zu übersehen: Antisemitismus wird juristisch verfolgt – zu Recht. Doch warum bleiben andere pauschale Verunglimpfungen nahezu folgenlos? Deutsche im Ausland werden als „Moffen“ und „Nazis“ beschimpft, Franzosen sind „Froschfresser“, Niederländer „Kaasköpfe“. Das ist nicht weniger plump, nicht weniger verletzend, nur eben nicht mit der gleichen politischen Gravität ausgestattet. Wer sich wehrt, bekommt zu hören: „Stell dich nicht so an.“

Hier liegt der Kern des Problems: Das Alleinstellungsmerkmal „Antisemitismus“ gerät zur Projektionsfläche. Statt antisemitische Ressentiments konsequent, aber nüchtern zu verfolgen, wird die moralische Keule geschwungen. Das erzeugt paradoxerweise nicht weniger, sondern mehr Antisemitismus. Denn es nährt das Gefühl, eine Gruppe werde als „mehr wert“ betrachtet, während andere Diffamierungen bagatellisiert werden. Ausgerechnet das, was bekämpft werden soll, wird verstärkt.

Wie also raus aus der Schablonen-Falle?

  1. Trennung von Kritik und Hetze. Kritik an staatlichem Handeln (auch an Israel) ist erlaubt, ja notwendig. Hetze gegen Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Religion ist etwas anderes. Wer beides verwischt, schadet am Ende allen.
  2. Gleiche Maßstäbe. Wenn Antisemitismus juristisch verfolgt wird, sollten auch systematische Beleidigungen anderer Nationalitäten oder Gruppen ernster genommen werden. Nicht jede Dummheit gehört vor Gericht, aber ein Mindestmaß an Gleichbehandlung wäre schon hilfreich.
  3. Sprache entschärfen. Die Nazikeule als Dauerwaffe stumpft ab. Wer alles „rechts“ nennt, erzeugt den Effekt von Shitstorms im Netz: Lärm, Empörung, Rufmord – und null Erkenntnisgewinn.
  4. Bildung statt Beschallung. Statt Dauerschleifen von Hitler-Dokus oder ritualisierter Gedenkreden wäre eine sachliche Aufklärung sinnvoll: Wie unterscheiden sich Meinungsäußerung, Kritik und echte Hetze? Nur wer das versteht, kann sich gegen Schablonendenken immunisieren.

Deutschland täte gut daran, den moralischen Vorschlaghammer in die Werkzeugkiste zurückzulegen. Kritik muss ausgehalten werden – auch wenn sie unbequem ist. Wer jede Abweichung mit der Schablone erledigt, zerstört das Fundament der offenen Gesellschaft.

Am Ende gilt: Ein Vorwurf, der inflationär benutzt wird, verliert seine Kraft. Wer wirklich gegen Antisemitismus kämpfen will, sollte ihn nicht zur Allzweckwaffe machen, sondern zum klar definierten, scharf begrenzten Tatbestand. Alles andere führt zu jenem paradoxen Zustand, in dem man Antisemitismus bekämpfen will – und ihn dabei selbst befeuert.


17.09.2025

 

Hitlers Hunde und die deutsche Dauerschleife

Es gibt Abende, da könnte man meinen, die Fernsehredaktionen hätten nur eine einzige Schublade: „Nazizeit“. Egal ob Phoenix, ZDFinfo oder Arte – irgendwer zeigt garantiert gerade wieder Hitler beim Hände-in-die-Hüften-Stemmen. Bald wird vermutlich noch eine Doku über seine Zahnpasta folgen. „Hitlers Hunde“ oder „Nazipferde“ sind inzwischen nicht mehr nur böse Witze, sondern satirisch greifbare Zukunftsformate.

Man will erinnern, aufklären, mahnen. Das Problem: Irgendwann ist Schluss mit Mahnung, wenn sie wie eine Tropfsteinhöhle auf die Zuschauer niederperlt. Wer nach 1945 geboren ist, kann mit Recht fragen: „Und was genau habe ich damit zu tun?“ Doch wehe, man stellt diese Frage laut – schon hängt der moralische Pranger bereit.

Das pädagogische Dauerfeuer

In Deutschland gilt: Ohne Nazidoku kein Bildungsauftrag. Der Blick zurück ist Staatsräson. Jeder Schüler hat mindestens dreimal „Schindlers Liste“ gesehen, jede Abiturklasse mindestens einmal Dachau oder Buchenwald besucht. Sinnvoll? Ja. Aber irgendwann verwandelt sich die kluge Mahnung in ein pädagogisches Dauerfeuer. Die Moralkeule wird so oft geschwungen, dass man sie nicht mehr spürt – oder man schlägt zurück.

Denn da ist das Missverständnis: Erinnerung ist nicht gleich Schuld. Doch genau so wird es häufig verkauft. Menschen, die erst in den Fünfzigern, Sechzigern oder Siebzigern geboren sind, sollen noch immer ein Bekenntnis ablegen, als hätten sie persönlich in Braunhemden marschiert. Das Ergebnis: Trotz. Resignation. Oder schlicht genervtes Wegzappen.

Wenn Dokus zum Futter werden

Besonders absurd: Was als Aufklärung gedacht ist, dient Neonazis und Rechtsradikalen als Material für ihre eigene Märchenwelt. In einschlägigen Foren kursieren Ausschnitte aus seriösen Dokus, unterlegt mit Marschmusik und Heldenpathos. „Seht her, was für eine starke Zeit!“ wird dann geschrien. Und während der Sender noch glaubt, er hätte erzieherisch gewirkt, jubelt die rechte Blase: Gratispropaganda direkt aus der Mediathek.

Mit anderen Worten: Wer die Nazi-Schleife zu oft wiederholt, liefert unfreiwillig das Soundtrack-Album für jene, die man eigentlich immunisieren wollte.

Moralischer Druck als Bumerang

Noch heikler wird es, wenn persönliche Verantwortung ins Spiel kommt. Wer heute öffentlich spricht – sei es in einer Talkshow oder einem Interview – wird gern gefragt, ob er sich „zu seiner Verantwortung gegenüber den Juden und Israel“ bekennt. Verantwortung, klar. Aber nicht selten wird daraus ein Zwangsbekenntnis. Wer sich windet oder Differenzierungen wagt, landet schneller in der rechten Ecke, als er „Auschwitz“ buchstabieren kann.

Doch so einfach ist Geschichte nicht. Schuld ist nicht vererbbar. Verantwortung aber schon – im Sinne von Wachsamkeit, von demokratischer Haltung, von Wehrhaftigkeit gegen Antisemitismus. Genau dieser Unterschied ginge auf jede Postkarte. Doch solange man lieber die Dauerpumpe betreibt, verpufft die Botschaft.

Erinnerung braucht Frischluft

Was also tun? Weniger Hitler. Mehr Gegenwart. Statt die tausendste Analyse von Goebbels’ Reden zu senden, könnte man lieber fragen: Wie funktionieren Fake News heute? Welche Parallelen gibt es zwischen damaliger Propaganda und heutiger populistischer Rhetorik? Warum marschieren auch heute Menschen lieber hinter Schreihälsen her, statt Fakten zu prüfen?

Kurz: Erinnerung muss mehr sein als Wiederholung. Sie muss Kontext schaffen. Wer nur den Hitler-Kanal einschaltet, bekommt irgendwann Rückkopplungen – und zwar genau die, die niemand haben will.

Nie wieder – aber bitte intelligent

Die deutsche Dauerberieselung mit Nazi-Themen hat ihre Grenzen erreicht. Statt der endlosen Wiederholung braucht es Formate, die neu denken, Fragen stellen, Widersprüche aushalten. Wer weiter glaubt, man könne mit Hitler-Dokus den Rechtsextremismus besiegen, irrt.

Denn vielleicht ist das eigentliche Problem nicht das Vergessen – sondern das Überfüttern. Und wer überfüttert, muss sich nicht wundern, wenn manche irgendwann nach anderem Futter gieren.

16.09.2025

 

Mein Leser – das unbekannte Wesen

 


oder Der Jubel, der ausbleibt

Einige Leser hat mein neuer Thriller *Pforte des Todes* tatsächlich gefunden – so viel ist belegt. Ganze zwei E-Mails, ein einzelner Anruf und sogar ein nach Veilchen duftender Brief haben ihren Weg zu mir gefunden. Alle Reaktionen fielen äußerst positiv aus, doch leider erschöpften sie sich im selben Muster: „Toller Roman, Gratulation!“ – und Ende.

Wie frustrierend! Mein Herz, das zitternd dem Urteil der Leser entgegenfiebert, schreit nach mehr als bloßen Lobfloskeln. Warum, zum Teufel, sagt ihr mir, das Buch sei großartig, wenn ihr mir nicht verratet, warum?

Nach all den Jahren ohne literarische Streicheleinheiten lechze ich nach echter Rückmeldung, nach einer ausführlichen Urteilsbegründung! Wie ist mein Stil? Habe ich überhaupt einen? Wie gelungen ist der Aufbau der Handlung? Wie lebendig sind die Figuren gezeichnet? Und vor allem: Wie sehr strapaziert die Spannung eure Nerven? Kurz: Was genau macht meinen neuen Roman so fesselnd – ist er es überhaupt?

Durst nach begründetem Feedback

Ich habe Jahre auf diesen Moment hingearbeitet – die Wiedergeburt in der literarischen Öffentlichkeit. Jetzt, wo *Pforte des Todes* endlich erschienen ist, giert meine ausgehungerte Autorenseele nach detaillierten Reaktionen. Eine bloße Gratulation ohne Begründung ist wie ein Tropfen auf dem heißen Stein meines Egos.
Ich wünsche mir sehnlichst, dass die Leser nicht nur „gefällt mir“ ankreuzen, sondern mir erzählen, warum es ihnen gefällt (oder gar nicht gefällt!). Waren es meine originellen Wendungen? Der sprachliche Witz? Die glaubwürdigen Dialoge? Oder hat vielleicht die jahrelange Wartezeit eure Erwartungen in ungeahnte Höhen geschraubt? Ich stehe hier wie ein Angeklagter vor dem Richter – aber ohne die Urteilsbegründung, die mein schreibendes Herz so dringend braucht.

Warum nur? – Ironische Erklärungsversuche

Mangels echtem Feedback bleibt mir nur, in absurde Spekulationen zu flüchten. Vielleicht ist Pforte des Todes ja aus ganz anderen Gründen „toll“, als von mir naiv angenommen. Mögliche Ursachen für die Begeisterung – oder das Ausbleiben des Mega-Erfolgs – könnten sein:

- Versteckte Perle: Mein Roman muss erst gesucht werden, statt als riesige Bestseller-Pyramide im Buchladen-Eingang zu thronen. Nichts für Laufkundschaft, eher ein Geheimtipp für Schatzsucher.
- Keine Bestseller-Plakette: Pforte des Todes steht (noch) nicht seit drei Jahren unangefochten auf Platz 1 der Bestsellerliste. Vielleicht traut man dem Braten nicht, wenn der Spiegel sich bedeckt hält.
- Schlafmittel in Buchform: Möge mich der Blitz treffen für solche Lästerung – vielleicht taugt mein Roman am Ende nur als Rohstoff für hochwirksame, nach Buchbinderleim schmeckende Schlaftabletten?

Zwischen Hymne und Bannfluch

Dabei war das Echo keineswegs nur spärlich. Deutschlandfunk und FAZ et co. etwa haben sich meines Romans in Rezensionen angenommen – und zu meiner kaum verhohlenen Genugtuung nicht etwa vorsichtig, sondern mit kräftigen Worten gelobt. Von „spannend“, „vielschichtig“ und gar „literarisch bemerkenswert“ war die Rede. Worte, die mir das Herz wärmten und die Federn meines Ego-Pfaus kräftig zum Schwingen brachten.

Doch kaum hatte ich mich in dieser warmen Badewanne aus Anerkennung wohlig zurückgelehnt, tauchte am Horizont das andere Deutschland auf – jenes der moralischen Instanzen, die ihr Heil darin suchen, mit dem Bannstrahl zu drohen. Man flüsterte, dass gar die Exkommunikation im Raum stand. Ja, die Kirche sei beunruhigt über die Abgründe, die sich in Pforte des Todes lästernd aufgetan hätten, und habe ernsthaft über Sanktionen nachgedacht.

Zum Glück – oder leider, je nach dramaturgischem Standpunkt – scheiterte die angedrohte Exkommunikation an einem simplen Faktum: Ich gehöre keiner Kirche an. Ein kläglicher Fehlschlag für die Wächter der Moral, ein Triumph für die Bürokratie. So blieb mir der eigentliche literarische Ritterschlag, denn was kann eine größere Ehrung sein, als vom Kanzelpersonal höchstselbst aus der Gemeinschaft verbannt zu werden? Stattdessen blieb nur ein Schulterzucken: „Kann man nicht exkommunizieren, den Kerl – er hat ja keinen Mitgliedsbeitrag gezahlt.“

Ironischer kann ein Autorenschicksal kaum verlaufen: Auf der einen Seite das Lob der Kulturkritik, auf der anderen das ergebnislose Donnerwetter aus dem Beichtstuhl. Ich, der vom Kulturauge geadelte und von der Kirche bedrohte, stehe nun da und frage mich, was schwerer wiegt – die Hymne oder der Bannfluch, das Lob oder der halbherzige Tadel.

Ein Appell an den unbekannten Leser

Verzeiht meinem labilen Autorengemüt, aber ich stehe vor dem Nervenzusammenbruch. Ja, ich bin gestresst, ja, ich bin beinahe schon krank vor Sorge – dem Wahnsinn nahe! (Oder wie heißt das Vergnügen, nicht mehr Herr seiner selbst zu sein?)

Darum richte ich diesen Appell an dich, lieber Leser, du unbekanntes Wesen: Erbarme dich! Gib mir ein Zeichen, sei es auch nur anonym. Schreib mir ein paar Zeilen, nenne mir Himmel und Hölle deines Leseerlebnisses. Ich ertrage alles – überschwängliches Lob, sachliche Kritik, meinetwegen sogar böse Verrisse –, solange ich nur erfahre, was mein Buch in dir ausgelöst hat.

Denn nichts ist schlimmer als das große Schweigen im Walde. Selbst ein wütender Protest wäre mir willkommen, solange er ehrlich gemeint ist und aus der Lektüre (und einem ordnungsgemäß erworbenen Exemplar) kommt. 

P.S.: Selbst die empörten Stimmen geistlicher Würdenträger, die sich durch mythische oder kirchenkritische Motive in meinem Thriller auf den Schlips getreten fühlen, nehme ich gerne entgegen – vorausgesetzt, sie haben das Buch ordnungsgemäß gekauft und nicht kopieren lassen.

13.09.2025

 

Journalisten und ihre Wahrheit 

 oder: Wenn die Feder schneller fabuliert als das Leben

Man kennt das Spiel. Ein Journalist ruft an: „Wir wollen Ihre Geschichte erzählen.“ Klingt schmeichelhaft, als dürfe man endlich selbst zu Wort kommen. Doch spätestens beim fertigen Beitrag merkt man: Es war nie die eigene Geschichte, sondern die des Reporters. Er schreibt nicht, was war, sondern was sich verkauft. Und das sind selten die leisen Zwischentöne, sondern die lauten Knalleffekte.

Die Logik ist simpel: Sensation schlägt Substanz. „Wenn es kracht, dann kracht’s auch in der Auflage.“ Das Publikum verlangt Blut, Tränen und Verrat – und der Journalist liefert. Was nicht in die Dramaturgie passt, wird glattgebügelt. Komplexität stört. Zweifel irritieren. Also wird die Biografie des Porträtierten wie ein Krimi geplottet: Helden, Schurken, Abgründe. Das Ergebnis: ein Märchen im Gewand der Reportage.

Das Problem daran: Wer wirklich gelebt hat, erkennt sich in solchen Texten nicht wieder. Man liest von sich selbst wie von einem Fremden. „War ich das?“ „Habe ich das gesagt?“ Man möchte anrufen und korrigieren, doch das Telefon des Journalisten bleibt stumm. Er ist längst bei der nächsten Story – dem nächsten Opfer.

Natürlich, man könnte sagen: Journalisten sind keine Archivare, sondern Erzähler. Sie erwarten Bilder, keine Bilanzen. Aber wo endet die Erzählung – und wo beginnt die Lüge? Wenn aus einem Gespräch mit einem Glas Wasser in der Hand eine Szene mit „zitternden Fingern am Whisky“ wird, ist das keine Interpretation mehr, sondern Fiktion.

Manche Journalisten rechtfertigen sich mit dem Publikum: „Die Leser wollen es so.“ Ach ja? Die Leser wollen offenbar auch, dass Politiker Helden oder Schurken sind, niemals ambivalente Menschen. Dass Flüchtlinge Heuschrecken sind oder Heilige, aber nie Nachbarn. Das Publikum, heißt es, verträgt keine Grautöne. Nur Schwarz oder Weiß. Dabei wären genau die Grautöne die Wahrheit.

Ironie der Geschichte: Wer viel erlebt hat, wird umso stärker verfälscht. Denn eine bewegte Vergangenheit schreit nach Dramatik. Je mehr Stoff vorhanden ist, desto hemmungsloser wird gebogen. Ein Mann, der etwas gesehen, getan, erlitten hat – er ist für die Medien kein Zeitzeuge, sondern eine Requisite. Seine Rolle: den Plot verstärken.

Und man selbst? Man bleibt der Statist im eigenen Film. Die eigentliche Geschichte – die widersprüchliche, manchmal banale, manchmal tragische Wahrheit – passt nicht ins Drehbuch. Sie ist zu kompliziert, zu wenig quotenträchtig.

Das Bittere daran: Viele Journalisten begreifen nicht, dass sie so Vertrauen verspielen. Der Porträtierte fühlt sich benutzt, das Publikum irgendwann betrogen. Am Ende steht nicht Erkenntnis, sondern Misstrauen: gegen Medien, gegen Berichterstattung, gegen jede Form von Darstellung.

Vielleicht wäre Ehrlichkeit weniger spektakulär – aber nachhaltiger. Ein Leben, das in allen Facetten erzählt wird, ist spannender als jedes konstruierte Drama. Doch dazu bräuchte es Mut zum Leisen, Geduld fürs Widersprüchliche und Respekt vor dem, der sein Leben zur Verfügung stellt.

Solange das nicht passiert, bleibt das Verhältnis zwischen Journalist und Porträtiertem eine Art ungleiche Ehe: Der eine liefert die Wahrheit, der andere macht daraus einen Krimi. Und beide wissen: So richtig stimmt es nicht

Nur der Journalist verkauft es trotzdem.